Das letzte Zeichen (German Edition)
nicht, wie du hättest verhindern können, dass das System davon erfährt.« Zweifel plagten sie. »Man kann das System doch nicht kontrollieren, oder?«
Lucas schloss die Augen. Dann blickte er sie seltsam an, unsicher. »Also gut. Da ist noch etwas.«
»Was?« Sie verengte die Augen zu Schlitzen. »Was denn?«
»Ich will dir etwas erzählen, Evie. Etwas Wichtiges. Damit du mir vertraust, okay?«
»Okay«, antwortete sie unsicher.
Er sah nach oben, dann wieder auf den Boden, so als suchte er nach den richtigen Worten.
»Was denn?«, fragte Evie noch einmal und runzelte die Stirn. »Sag schon.«
Er zog ein Stück Papier hervor und gab es ihr. Evie blickte verständnislos darauf. Es war irgendeine Bescheinigung. Da standen ihr Name und auch die Namen ihrer Eltern. »Deine Eltern …«, flüsterte er kaum vernehmlich. »Deine Eltern sind nicht deine Eltern.«
Sie sah ihn an. »Natürlich sind sie meine Eltern!«
»Nein, Evie.« Er atmete tief aus, trat einen Schritt zurück und blickte sie besorgt an. »Das sind sie nicht. Sie haben dich adoptiert, als du drei Jahre alt warst.«
Sie kniff die Augen zusammen und las den Text noch einmal durch, bis sie, ganz unten in der Ecke, das Wort fand, das sie gesucht hatte. »Adoption.« Ihr wurde übel. Und sie knüllte das Blatt zu einem Ball zusammen.
»Was redest du denn da?«, meinte sie wütend. »Ist das noch eine Lüge? Was redest du denn da, Lucas?« Sie tippte ihm mit dem Finger gegen die Brust, dann versetzte sie ihm einen Stoß, und ehe sie sichs versah, schlug sie auf ihn ein. Sie fauchte ihn an. Aller Anstand war abgefallen, bemerkte sie; Schluss mit der Heuchelei. »Was redest du da, Lucas?«, drang sie auf ihn ein. »Sag es mir …!«
Lucas hockte sich hin und zog sie neben sich. »Das war Teil des Wachstumsprogramms«, flüsterte er, und seine Stimme war angespannt. »Es gab nicht genug Menschen, vor allem keine jungen Leute. Nicht alle konnten nach der Schreckenszeit Kinder bekommen. Nicht alle …« Er holte tief Atem. »Also hat man Menschen hereingelassen. Verzweifelte Menschen. Manche hatten einen weiten Weg zurückgelegt. Sie hatten nichts zu essen, waren am Verhungern. Sie waren nur knapp dem Tod entronnen und hatten gedacht, die Stadt würde sie retten. Sie kamen her und …« Er verstummte; in seinen Augen glänzten Tränen.
»Und was?«, fragte Evie. Ein seltsames Gefühl beschlich sie. »Was ist mit ihnen passiert? Was ist mit meinen richtigen Eltern passiert?«
»Man hat ihnen ihre Kinder weggenommen und sie zu guten Eltern gegeben. Zu Eltern, die selbst keine Kinder bekommen konnten.«
Evie spürte einen dicken Kloß in der Kehle. »Das meine ich nicht. Was ist mit ihnen passiert? Was ist mit meinen leiblichen Eltern passiert?« Ihre Stimme klang kehlig tief.
Lucas schüttelte den Kopf als Antwort.
Evie sprang auf und wich einen Schritt zurück. Sie konnte nicht sprechen. Sie drehte sich um und ging auf das Haus zu, das Haus, in dem sie aufgewachsen war, das Haus, das sie immer für ihres gehalten hatte. Jetzt war es für sie nichts als eine Lüge.
Sie fühlte sich elend.
Sie wollte schreien, nein, brüllen. Sie wollte Lucas anschreien, er solle sie nicht mehr anlügen, solle ihr nicht solche Dinge erzählen.
Doch sie tat es nicht, weil sie wusste, irgendwo tief drin, dass er nicht log. Der Mann aus ihrem Traum, der sie an sich presste. Die Frau, die ihr über die Stirn strich und ihr von dem wunderbaren Ort erzählte, wo sie hingehen würden, und die ihr sagte, dass sie stark sein musste. Ihre Eltern. Das waren ihre richtigen Eltern gewesen.
Sie drehte sich wieder zu Lucas um. Ihre Augen schwammen in Tränen. »Ich habe von ihnen geträumt«, hörte sie sich sagen, aber ihre Stimme hatte nichts mit ihr zu tun, denn sie war schon wieder ganz weit weg, ein kleines Mädchen auf dem Arm eines Mannes, der sie liebte. »Der Bruder hat gesagt, ich würde von der Stadt träumen. Er wusste es. Sie …«
Sie fing Lucas’ Blick auf, sah den Schmerz in seinen Augen, wusste, dass er verstand. Als sie sich gegen ihn fallen ließ, spürte sie, wie er die Arme fest um sie schlang, und es war fast so, als wäre sie wieder in ihrem Traum. »Verstehst du?«, flüsterte er verzweifelt. »Hier gibt es so viele Lügen. Wir müssen Raffy befreien. Wir müssen!«
Und Evie nickte, weil sie wusste, dass er recht hatte. Und sie wusste noch etwas. »Ich gehe auch«, sagte sie, und während sie es sagte, stieg Angst in ihr auf, denn außerhalb der
Weitere Kostenlose Bücher