Das letzte Zeichen (German Edition)
seine Wut zu unterdrücken, sich ein Beispiel an Lucas zu nehmen und äußerlich kühl zu bleiben, auch wenn er innerlich kochte. So ein Verrat. So ein schrecklicher, unglaublicher Verrat. Er hätte es wissen müssen. Er gab sich die Schuld. Nein, das tat er nicht. Er gab sich nicht die Schuld. Schuld war ohnehin bedeutungslos. Was zählte, waren Vergeltung, Gerechtigkeit, die Vernichtung derer, die sich gegen ihn auflehnten und alles infrage stellten, was er so mühsam aufgebaut hatte. Er war der Bruder und sie waren … nichts. Wilde. Erbärmliche Feiglinge. Und alle diesem Linus hörig, diesem kläglichen, wehleidigen Kerl, der glaubte, er könnte die Welt verändern, indem er den Leuten das gab, was sie wollten. Aber die Leute wussten doch gar nicht, was sie wollten! Die Leute würden es nie wissen. Man musste ihnen sagen, was sie wollten. Sie mussten geführt werden. Und der Bruder hatte sie geführt. Er hatte sie gut geführt. Sie lebten in Sicherheit. Es herrschte Ordnung. Sie waren glücklich …
Das Klopfen an der Tür schreckte ihn hoch, aber er fing sich schnell wieder. Es kam genau rechtzeitig; eher schwächer als Lucas’ Klopfen, eher zu zaghaft für seinen Geschmack, aber daran konnte er noch arbeiten.
»Ah, Sam. Komm rein.«
Der junge Mann blickte ängstlich drein, angespannt. Er glaubte, er sei in Schwierigkeiten, erkannte der Bruder und musste lächeln bei dem Gedanken. »Bitte, setz dich.« Er deutete auf die Stühle auf der anderen Seite des Schreibtischs.
Sam setzte sich vorsichtig hin, weit vorgebeugt und mit offensichtlich verkrampften Beinen.
»Wie lange arbeitest du nun schon in der Systemabteilung?«
»Fünf Jahre«, antwortete Sam.
Der Bruder nickte bedächtig. »Und es heißt, du seist ein ausgezeichneter Techniker?«
Sam wurde rot und sagte verlegen: »Ich tue mein Bestes. Lucas hat uns alle gut geschult. Ich tue mein Bestes«, wiederholte er.
»Und das ist alles, was ich verlange«, sagte der Bruder und lächelte gütig, das Lächeln, das er auch seiner Gemeinde bei der Versammlung schenkte.
»Zumindest alles, was ich normalerweise verlange. Aber manchmal ist mehr gefordert. Manchmal sind wir aufgerufen, sehr viel mehr zu tun, um einer Situation gerecht zu werden, zum Wohle aller und um unserer großartigen Stadt zu dienen. Glaubst du, Sam, dass du einer solchen Aufgabe gewachsen bist?«
Sams Augen wurden ganz groß; seine Beine zitterten, als hätte er keine Kontrolle mehr über sie. »Ich … ich werde tun, was ich kann«, brachte er schließlich heraus. »Alles für unsere großartige Stadt, Bruder.«
»Gut«, sagte der Bruder und lächelte wieder. »Denn manchmal passieren Dinge. Schreckliche Dinge. Manchmal entdecken wir, dass das Böse überall um uns herum ist, an Orten, an denen wir es nie vermutet haben. Manchmal erkennen wir, dass das System uns prüft und dass wir handeln müssen, um unsere Hingebung an das Gute zu zeigen.«
»Ja, Bruder«, antwortete Sam, obwohl der Bruder an dessen Miene sehen konnte, dass er keine Ahnung hatte, wovon er redete.
»Dann ist es entschieden«, erklärte der Bruder mit einem Nicken. Er beugte sich vor. »Du sollst eine Systemänderung vornehmen, Sam. Eine Änderung, über die du mit niemandem sprechen darfst, verstehst du?«
»Natürlich.«
Der Bruder gab ihm einen Umschlag. »Öffne ihn«, sagte er. Sam nahm ihn vorsichtig entgegen und riss ihn mit zitternden Fingern ungeschickt auf.
»Und jetzt lies«, befahl der Bruder. Er beobachtete aufmerksam, dass Sams Augen so groß wurden wie Untertassen und dass er so heftig zu zittern begann, dass der Bruder sich fragte, ob er gleich vom Stuhl fallen würde. »Du verstehst, was ich meine, wenn ich sage, dass du niemandem davon erzählen darfst?«
Sam nickte. »Lucas?«, flüsterte er ungläubig, verzweifelt. »Aber wie … ich …«
»Es ist nicht an uns, solche Fragen zu stellen«, sagte der Bruder bestimmt. »Wir müssen unsere Hingabe und Entschlossenheit zeigen. Stark sein. Akzeptieren. Und erkennen, dass wir in unserer Wachsamkeit niemals nachlassen dürfen. Verstehst du, Sam?«
Sam nickte unglücklich.
»Und so eine starke, mutige Tat wird natürlich belohnt«, fuhr der Bruder fort und erhob sich, damit Sam wusste, dass es Zeit war zu gehen. »Ich werde schon bald keinen Stellvertreter mehr haben, keinen Systemchef, und ich brauche jemanden, der diese Position einnimmt, Sam. Jemanden, auf den ich mich verlassen kann.«
Sam erwiderte seinen Blick und verstand, was er damit
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