Das letzte Zeichen (German Edition)
…«
»Du liebst mich? Du weißt gar nicht, was Liebe ist«, spie er aus und zog die schlecht passenden Sachen an, die Linus ihm geliehen hatte. »Ich weiß nicht mal mehr, wer du eigentlich bist.«
Evie versuchte es noch einmal – ihn zu berühren, ihn dazu zu bringen, dass er sie ansah, ihr verzieh, aber er schüttelte sie ab. »Ich … ich gehe spazieren«, verkündete er wütend und marschierte aus dem Zelt.
»Spazieren? Wohin denn?«
»Irgendwohin«, hörte sie ihn noch sagen, dann verschwand er. Sie ließ sich wieder auf das behelfsmäßige Bett fallen, das nun völlig zerwühlt war, und rollte sich neben ihrem tränennassen Kissen zusammen.
Evie brauchte eine halbe Stunde, bis sie selbst das Zelt verlassen konnte. Eine halbe Stunde, in der sie mal teilnahmslos gewesen, dann wieder auf und ab gegangen war, in ihrem Kopf Gespräche durchgespielt und sich immer wieder auf das Bett hatte fallen lassen. Irgendwann trocknete sie sich die Augen, zog sich an und ging zu dem gemeinschaftlichen Wasserhahn unter den Regenwassertanks, wo sie sich Wasser übers Gesicht laufen ließ. Denn es hatte keinen Sinn, sich noch mehr Gedanken darüber zu machen, was passiert war.
Von Raffy war nichts zu sehen. Niemand war zu sehen. Linus saß wahrscheinlich am Computer und ging Programmcodes durch; die anderen waren wohl im Essenszelt beim Frühstück. Doch Evie hatte keinen Hunger, sie konnte nicht ans Essen denken. Stattdessen ging sie zwischen den verschiedenen Zelten hindurch, dachte so wenig wie möglich darüber nach, was sie tat, sondern beschäftigte sich lieber mit ganz normalen Dingen, mit praktischen Dingen. Etwas mit Zelten. Zelte waren für sie die einzig passende Unterkunft, hatte Linus ihr und Raffy am Tag zuvor erklärt. Zelte boten Schutz, aber man konnte sie auch tragen und leicht und schnell abbauen. Die Stadt mit ihrer Mauer darum herum und der günstigen Lage am Fluss konnte für die Dauer bauen. Base Camp dagegen musste beweglich sein, flexibel und anpassungsfähig. Manchmal hieß Stärke gerade, zu wissen, wann man weglaufen musste, hatte er gesagt. Und die Worte waren ihr im Kopf geblieben, auch wenn sie nicht wusste, warum.
Sie ging an den Zelten vorbei und sagte sich, sie würde einfach nur alles erkunden, um sich zurechtzufinden. Aber sie wusste, dass das nicht stimmte. Sie wusste genau, wo sie hinwollte. Sie hatte schon zu viele Menschen verloren. Und zu viel Liebe.
Und dann war sie da, vor dem Zelt, das sie am Tag zuvor das erste Mal gesehen hatte, dem Zelt, das ihre Gedanken seither besetzt hatte.
»Das hier sind die Glücklichen«, hatte Linus gesagt, »die wir retten konnten. Die anderen …«
Er hatte den Satz nicht beendet, sondern war einfach weitergegangen. Doch später hatte sie ihn dazu gebracht, ihn zu beenden. Später, beim Abendessen hatte sie ihn alles gefragt. Sie hatte den erschöpften Ausdruck in seinem Blick gesehen, aber sie wusste, dass er antworten würde, weil das in seiner Natur lag. Und so hatte er erzählt, dass die Bösen in einem anderen Lager festgehalten wurden, das die Stadt eingerichtet hatte. Die Wachleute, erzählte er voller Bitterkeit, würden die Gefangenen schlagen, verstümmeln und vergewaltigen, da diese als die Verkörperung des Bösen keinerlei Rechte hatten und die Wachen keinen anderen Zeitvertreib. Hin und wieder würden die Bösen nachts in die Stadt gelassen, um dort Chaos und Zerstörung anzurichten, damit die Bürger weiterhin Angst hatten vor ihnen und vor allem, was außerhalb der Stadtmauer lag. Und so glaubten sie, dass die Menschen ohne Neutaufe genauso werden mussten wie diese Bösen: gesetzlose Kannibalen, die nur zerstören wollten.
»Es tut mir leid«, hatte er leise gesagt und ihre Hand gedrückt. »Aber du hast gefragt.«
Sie hatte dankbar genickt, weil er ihr die Wahrheit erzählt und nichts vor ihr verheimlicht hatte, so wie alle anderen es ihr ganzes Leben lang getan hatten. Aber tief drin empfand sie eine Wut, die heftiger war als alles, was sie bisher erlebt hatte. Eine Wut, die sie verzehrt hatte und die sie immer noch verzehrte. Die Lügen. Die schrecklichen, schrecklichen Lügen. Ihr ganzes Leben lang hatte sie Angst gehabt, dass sie böse war, Angst gehabt, dass sie das Böse in sich trug und dass sie ihre Eltern enttäuschte, dass sie den Bruder enttäuschte. Ihr ganzes Leben lang war sie voller Schuldgefühle gewesen, bei jeder kleinen Verfehlung, bei jedem verbotenen Treffen mit Raffy, bei jedem nicht gerade
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