Das Leuchten der Insel
»Es ist Sounder. Manchmal siegt die Notwendigkeit über die Gesetzestreue.« Er hielt kurz inne und erläuterte dann: »Bei uns gibt es keinen Verkehr. Die Kinder müssen hier schon früh wissen, wie man fährt, damit sie bei der Landarbeit helfen können. Die meisten lernen es, sobald sie mit den Füßen die Pedale erreichen können.«
Kein Verkehr. Susannah hätte am liebsten gleich hier auf dem Boot einen kleinen Freudentanz vollführt. Wenn sie sich ein Leben gewünscht hatte, das sich so stark wie möglich von dem in Tilton unterschied, dann bekam sie es. Was konnte unterschiedlicher sein als nicht sechs Stunden täglich in einem Auto in endlosen Verkehrsschlangen eingesperrt zu verbringen? Allerdings ließ die Vorstellung von Katie auf einem Motorrad, die Arme um irgendeinen Jungen im Teenageralter geschlungen, sie innehalten.
»Sie haben ein Motorrad«, stellte Susannah fest.
»Ja«, bestätigte Jim. »Aber im Moment wird es nicht benutzt. Sie können also Ihre Easy-Rider -Ängste wieder ablegen.«
»Sie können meine Gedanken lesen.«
Jim neigte bestätigend den Kopf: »Eine meiner vielen Fähigkeiten.«
Plötzlich nahm der Seegang zu, und die Wellen wurden kabbelig und rau. Die beruhigende Form von San Juan Island zu ihrer Linken war verschwunden, und sie befanden sich in einem breiten offenen Kanal. Jim legte nun beide Hände an das Steuer.
»Governor’s Channel«, erklärte er. »Das tiefste Wasser der San Juans. Die Strömungen können hier ein wenig verrückt sein.«
Susannah versuchte, ihre Angst zu unterdrücken. Es war über dreißig Jahre her, dass sie sich auf einem anderen Wasserfahrzeug als der Fähre befunden hatte, mit der sie gerade gefahren waren, um herzukommen. Aber das war der andere Zweck dieses Abenteuers, nicht wahr? Sie lief nicht fort. Sie konfrontierte sich unmittelbar mit ihren eigenen dunkelsten Ängsten.
Susannah hatte versucht, Matt dies zu erklären, als sie nach jener schrecklichen Nacht im Krankenhaus darüber gesprochen hatten, was sie tun sollten. Zach, der Siebzehnjährige, mit dem sich Katie hinter ihrem Rücken traf, hatte sie auf eine Party mitgenommen und ihr so lange Cola mit Rum eingeflößt, bis sie das Bewusstsein verlor. Nur die schnelle Reaktion von Katies Freundin Annie, die erst spät auf die Party kam und Katie in einer dunklen Ecke mit Zach auf dem Sofa liegend vorfand, bewahrte sie vor Gott weiß was mit Zach und rettete ihr wahrscheinlich das Leben. Annie schrieb eine SMS an ihre eigene Mom, die sofort Susannah anrief, woraufhin diese auf der Stelle zusammen mit Matt zur Party raste.
Ein paar Tage später rief Annies Mom erneut an und hatte weitere Nachrichten. Zach besaß eine Website und hatte mit anderen Jungs von der High School Wetten darüber abgeschlossen, ob er Mädchen dazu bringen konnte, ihm ihre Jungfräulichkeit zu schenken. Er stufte alle ein und veröffentlichte auf der Website die Gewinnchancen. Katie stand ebenfalls auf seiner Liste, und er hatte Zwei zu Eins darauf gewettet, dass er am 1. November Sex mit ihr haben würde.
Susannah und Matt erwogen rechtliche Schritte, aber sie wohnten in einer Kleinstadt. Susannah hatte bereits gehört, was man sich über Katie und über ihre Erziehung erzählte. Sie wollte nicht zum Gegenstand endloser Klatschgeschichten werden, während der Fall durch die Instanzen ging und im Lokalblatt breitgetreten wurde. Ihr Wunsch wegzugehen, kam wie ein intuitiver Reflex.
»Ich muss sie hier rausnehmen«, sagte sie zu Matt. »Zach …«
»Dieser elende Wichser«, stieß Matt zwischen seinen zusammengepressten Lippen hervor. Einen Augenblick lang sah Susannah ihn als wütenden zwölfjährigen Jungen, der um seine Selbstbeherrschung kämpfte. Dann hatte er gezittert, heftig den Kopf geschüttelt und auf seine rationale, für ihn typische Art begonnen zu planen, was als Nächstes zu tun sei. »Weglaufen ist keine Lösung«, meinte er.
Susannah legte gerade die Wäsche zusammen, als sie sich unterhielten. »Es geht nicht nur um Zach. Es geht um Katie!«, sagte sie. »Was bringt sie dazu, mit einem Kerl wie Zach ausgehen zu wollen oder auf diese Party zu gehen, von der sie weiß, dass keine Erwachsenen da sein werden? Wir müssen sie von hier wegbringen, zumindest für eine Weile.«
»Aber sie wird immer noch Katie sein, unabhängig davon, wo sie ist«, wandte Matt ein.
»Hier gibt es mehr Verlockungen.« Susannah konnte sich noch an das weiche T-Shirt erinnern, das sie während dieses Gesprächs in den
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