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Das Leuchten der Insel

Das Leuchten der Insel

Titel: Das Leuchten der Insel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathleen McCleary
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versicherte Susannah.
    Jim setzte an, um etwas zu sagen, aber dann brach er ab und spähte nach vorn.
    »Sehen Sie! Wir haben Gesellschaft bekommen.«
    Susannah blickte nach vorn. Sie konnte sehen, wie geschmeidige schwarz-weiße Körper das blaugrüne Wasser vor dem Boot zerschnitten, über die Oberfläche sprangen und dann wieder verschwanden.
    »Weißflankenschweinswale«, erläuterte Jim.
    Die Kinder rannten nach draußen und kletterten die Bootsseite entlang bis zum Bug, wo sie, Seite an Seite, ins Wasser spähten. Susannah folgte ihnen und heftete ihren Blick auf die Kinder, nicht auf ihre delfinartigen Begleiter. Sie kniete neben Quinn nieder. Dort, so dicht vor ihr, dass sie sich vorbeugen und sie berühren konnte, sprangen die Kleinwale in anmutigen Bögen über die Wellen. Sie sprangen rücklings und schwammen in geschwungenen, gestreckten S-Kurven; schwarze Blitze, das leuchtende Weiß eines Bauchs, dann wieder das Schwarz – springend, spritzend, sich drehend. Quinn war selig.
    Eine plötzliche Angst durchschoss Susannah. Die Kinder lehnten sich über die Reling und waren so dicht an dem tiefen, tiefen Wasser. Aber sie atmete tief durch und sah zu Katie hin. Ihr Gesicht war offen, unverstellt. Susannah erinnerte sich plötzlich daran, wie sie als Dreizehnjährige auf Wasserskiern über die glasige Oberfläche des Sees geglitten war; ihre Schenkel brannten, und die Skier flatterten unter ihren Füßen, während sie die Heckwelle durchschnitt. Sie erinnerte sich daran, wie sie einen Augenblick reiner Freude, ungetrübter Freiheit empfunden hatte. Es war so intensiv gewesen, dass sie es nie vergessen hatte. Und sie spürte es jetzt erneut, während ihr der Wind ins Gesicht schlug, sie den scharfen Geruch des Meerwassers einatmete, die Schweinswale durch das Wasser kurvten und ihre Kinder auf dem Bug knieten und in ihr Staunen versunken waren.
    »Wenn Matt das nur sehen könnte«, dachte sie. Trotz all der Auseinandersetzungen im Lauf des vergangenen Jahres fehlte er ihr. Sie konnte mit geschlossenen Augen jede Linie seines Gesichts nachzeichnen, von der Narbe auf seinem rechten Wangenknochen bis zu seinem schiefen Lächeln. Das Gefühl, seinen Körper an ihrem zu spüren, war so vertraut wie das Gefühl ihrer eigenen Zunge an ihren Zähnen. Sie kannten sich seit neununddreißig Jahren, seit jenem ersten Sommer im Camp Chingwa, und waren seit siebzehn Jahren verheiratet. Sie erinnerte sich an ihre ersten Ehejahre, als sie auswärts arbeitete und ihr Matt jeden Tag eine Postkarte geschickt hatte, so wie er es in der Woche vor dem Camp zu tun pflegte, als sie noch Kinder waren. Matt sprach nicht viel über Gefühle und Sehnsüchte, und daher war sie erstaunt über das, was er schrieb, etwa: »Hier regnet es, und Du fehlst mir. Dein Kissen riecht noch nach Dir. KOMM NACH HAUSE.«
    Sie fragte sich, ob er einsam war. Und plötzlich fragte sie sich, ob er sich in ihrer Abwesenheit mit einer anderen über seine Einsamkeit hinwegtrösten würde. Dieser Gedanke ließ sie derart hochfahren, dass sie fast vom Boot gefallen wäre.
    Die Schweinswale drehten sich und tauchten unter. Die kalte Gischt des Kielwassers spritzte an Susannahs Wangen. Dann schossen die Tiere fort, so schnell, wie sie gekommen waren, und verschwanden im dunkel werdenden Wasser.
    Jim streckte seinen Kopf durch die Dachluke seines Steuerhauses. »Hallo Leute«, rief er. »Seht mal nach vorn!«
    Susannah hob die Augen. Sie konnte in der Ferne eine Insel erblicken, die die Form eines Drachenschwanzes hatte: niedrig und dicht am Wasser auf der einen Seite, und sich langsam zu einer dicken, stabilen Masse auf der anderen Seite erhebend. Sie sah Sanddünen am niedrigen Strand, hinter denen sich die Silhouetten von Zedern und Tannen scharf abzeichneten, und riesige lehmfarbene Klippen auf der anderen Seite mit hellen Flecken orangefarbener Flechten. Dickes Moos bedeckte die darunterliegenden Felsen. Auf der Spitze einer Klippe am Ende der Insel konnte sie eine hockende Form erkennen – kein Baum und auch keine Hütte, sondern etwas anderes. Es sah fast aus wie ein Boot, obwohl kaum jemand ein Boot auf die Spitze einer Klippe stellen würde. Bevor sie es identifizieren konnte, unterbrach sie Jims Stimme.
    »Wal in Sicht!«, rief er. »Willkommen auf Sounder!«

4. Kapitel
    Susannah 2011
    B etty Pavalaks Haut sah aus wie ein Stück Papier, das man zunächst zerknüllt und dann wieder sorgfältig geglättet und auf einen Rahmen gespannt hatte, sodass die

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