Das Licht der Toten: Roman (German Edition)
als sie den Schlachtort verließen. Blieb zurück mit zwei Toten, Mikosch, Arschawin und einem Schwerverletzten, und mit Fragen, auf die er keine Antworten geben konnte.
Aber irgendetwas musste ihm einfallen.
Er rief Kleber an, bestellte die Kollegen, den Krankenwagen, dann setzte er sich in seinen ramponierten Toyota und wartete, bis er die Sirenen hörte, das Blaulicht sah, Kleber und Gottwald, die auf ihn zurannten, die an seiner Seite waren, so wie derjenige, den er in Becks Haus gespürt hatte, an seiner Seite war; und er wusste, er war nicht alleine.
KAPITEL
SIEBENUNDVIERZIG
Zwei Tage später.
»Bist du bereit?«
»Nein. Du?«
»Nein. Ich glaube, ich will gar nicht bereit sein.«
»Gut, dann können wir ja.«
Vierundzwanzig Stunden zuvor war Selinas Mutter gestorben. Achtundvierzig Stunden zuvor hatte man einen der Killer notoperiert, seine Chancen tendierten gegen null. Für Befragungen war er zu schwach. Aus dem Russen würden sie ebenso wenig herausholen wie aus den beiden Toten, die Dr. BenjaminLevy im Sektionssaal aufschnitt; wie immer fand er dort nur den Grund ihres Todes, nicht den ihres Lebens.
Vor achtundvierzig Stunden war Abraham das erste Mal befragt worden, seine Waffe zwecks ballistischer Untersuchungen eingezogen. Weitere Befragungen standen aus. Die Interne Ermittlung hatte sich eingeschaltet. Es gab Spuren und Hinweise und Fragen zu seinem Bruder, der vor Jahren in dunkle Geschäfte mit der Baumafia verwickelt war.
»Haben sie dich vom Dienst suspendiert?«
»So nennen die das nicht. Ich habe Urlaub genommen.«
»Für wie lange?«
»Wenn’s nach denen geht, für immer.«
Selina hatte die letzten dreiundzwanzig Stunden in Abrahams Wohnung durchgeschlafen. In der Stunde ihres Erwachens redete Robert lange und ausführlich mit ihr. Abraham saß daneben und hörte zu. Danach war ihm vieles klar. Vor allem, dass Robert nicht hierbleiben konnte und Selina ebenso wenig.
»Wohin werdet ihr gehen?«
»Das kann ich dir nicht sagen. Du weißt, warum.«
»Ja.« Ja, verdammt.
Das Justizvollzugskrankenhaus Berlin lag am Saatwinkler Damm 1a in Charlottenburg, nicht weit entfernt von Abrahams Wohnung. Sein Vater war ihm die letzten Monate auch räumlich wieder näher gekommen – nach mehr als zwanzig Jahren im Zuchthaus Moabit. Das Krankenhaus war 2007 eröffnet worden und bot Platz für hundertsechzehn Betten, sechsunddreißig davon in der Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie und dreißig in der Abteilung für Innere Medizin. Stationäre Grundversorgung plus ein fachärztlich ambulanter Versorgungsauftrag.
Der behandelnde Arzt hieß Anheuser. Er klärte sie über den Status ihres Vaters auf, warf mit Fachchinesisch um sich, von dem sie nur herausfilterten, dass er zu schwach war, um nochverlegt zu werden, dass er ein freier Mann war und todkrank, dass es nur noch eine Frage von Tagen war, vielleicht Stunden. Operiert worden war er vor vier Monaten, Chemo und Bestrahlung, aber »diese Art von Tumor ist ein heimtückischer Mörder, er agiert im Verborgenen und zeigt sich erst in seiner Gänze, wenn es schon zu spät ist«.
Anheusers Worte; wie wahr gesprochen, dachte Abraham, wie verteufelt wahr.
»Bist du bereit?«
»Nein. Du?«
»Nein. Ich glaube, ich will auch gar nicht bereit sein.«
»Gut, dann können wir ja.«
Vierundzwanzig Stunden zuvor saßen Robert und Frank in dessen Wohnung am Küchentisch, tranken Kaffee, rauchten, schwiegen, die zwei Gesichter ein und derselben Seele, die perfekte Ergänzung des jeweils anderen. Betrachteten sich intensiv und speicherten die Updates des jeweils anderen. Trugen einander im Herzen, egal, was käme, und da war so viel mehr: als könne der eine jederzeit in den anderen hineinsteigen und sein Leben führen. Wie es wohl auf der jeweils anderen Seite zuging? Als sie begriffen, dass sie beide über dasselbe nachdachten, grinsten sie verschwörerisch und schüttelten synchron den Kopf.
Nach einiger Zeit holte Abraham Lohmanns Brief aus einer Schublade und schob ihn Robert zu.
»Du willst jetzt nicht, dass ich das lese, oder?«
»Doch.«
»Wird mir gefallen, was da drin steht?«
»Ich fürchte, es wird dir nicht gefallen.«
»Wieso sollte ich mich dann damit belasten?«
»Weil ich es auch getan habe.«
»Das ist ein Argument.«
Abraham registrierte jede Aufmerksamkeit, jede Regung im Gesicht seines Bruders, als dieser in und zwischen den Zeileneintauchte und versank, wieder hochkam, nach Luft schnappte, sich über das Gesicht
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