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Das Licht des Nordens

Das Licht des Nordens

Titel: Das Licht des Nordens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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»Glaubst du, daß sie verrückt ist, Mattie. Glaubst du, daß sie in die Anstalt kommt?«
    Emmie Hubbard war ganz bestimmt verrückt, und ich war überzeugt, daß sie eines Tages abgeholt werden würde. Zwei- oder dreimal stand sie auch schon kurz davor. Aber das konnte ich Tommy nicht sagen. Er war schließlich erst zwölf. Während ich überlegte und nach Worten suchte, die weder gelogen waren, noch ganz der Wahrheit entsprachen – dachte ich mir, daß Verrücktheit nicht so ist, wie sie in Büchern beschrieben wird. Es ist nicht so wie bei Miss Havisham, die böse und würdevoll in den Ruinen ihres Herrenhauses sitzt. Und auch nicht wie in
Jane Eyre,
wo Rochesters Ehefrau auf dem Dachboden rumpoltert, schreit und die junge Angestellte erschreckt. Wahnsinn heißt nicht automatisch Schlösser, Spinnweben und silberne Kandelaber sondern schmutzige Laken, saure Milch und ein Hund, der auf den Boden kackt. Emmie verkriecht sich unterm Bett, weint und singt, während ihre Kinder versuchen, aus Saatkartoffeln Suppe zu kochen.
    Â»Weißt du, Tom«, sagte ich schließlich, »es gibt Zeiten, da möchte ich mich auch unterm Bett verkriechen.«
    Â»Wann denn? Ich hab dich noch nie unters Bett kriechen sehen, Matt.«
    Â»Ende Februar zum Beispiel. Da bekamen wir in zwei Tagen über einen Meter Neuschnee, erinnerst du dich? Zusätzlich zu dem Meter, den wir schon hatten. Er wehte auf die Veranda und blockierte die Vordertür. Die Schuppentür hab ich auch nicht aufgekriegt. Pa mußte durchs Küchenfenster raussteigen. Der Wind hat getobt und geheult, und ich wollte mich bloß noch irgendwo verkriechen und nie mehr vorkommen. Die meisten von uns fühlen sich manchmal so. Deine Ma verhält sich bloß so, wie sie sich fühlt. Das ist der einzige Unterschied. Ich schau vor der Schule bei ihr vorbei und bring ihr vielleicht ein Glas eingekochte Äpfel und ein bißchen Ahornzucker mit. Das mag sie doch. oder?«
    Â»Bestimmt. Ich weiß, daß sie das mag. Danke, Mattie.«
    Ich schickte Tommy und Jenny zur Schule und hoffte, daß Weavers Mama schon da war, wenn ich bei den Hubbards ankam. Sie schaffte es besser. Emmie unterm Bett vorzuholen als ich. Ich machte den Abwasch fertig und sah aus dem Fenster auf die kahlen Bäume und die braunen Felder, um zwischen dem Schnee vielleicht ein paar gelbe Flecken zu erspähen. Wenn man im April eine Natter sieht, gibt es bald Frühling. Den Schnee, die Kälte und jetzt den Regen und Schlamm hatte ich gründlich satt.
    Die Leute nennen diese Zeit des Jahres – wenn der Keller fast leer und der Garten noch nicht angepflanzt ist – die Sechs-Wochen-Not. Früher hatten wir im März immer Geld, um Fleisch, Mehl, Kartoffeln und alles andere zu kaufen, was wir brauchten. Pa ging Ende November zum Indian oder Raquette Lake hinauf, um beim Holztransport zu helfen. Sobald das Heu eingebracht war, machte er sich auf und blieb den ganzen Winter fort. Er führte Pferdegespanne, die flache Schlitten mit großen Kufen zogen. Die Ladungen waren zwei Mann hoch aufgetürmt, und er brachte sie über vereiste Wege die Berge herunter, wobei er sich auf seine Geschicklichkeit verließ, damit die Schlitten nicht die Hügel hinabstürzten und die Pferde und alles andere erschlugen, was ihnen im Weg war.
    Wenn es März wurde, schmolz der Schnee, die Wege wurden weich, und es war nicht mehr möglich. die schweren Lasten darauf zu transportieren. Gegen Ende des Monats hielten wir jeden Tag Ausschau nach Pa, weil wir nie genau wußten, wann er zurückkam. Oder wie. Auf der Ladefläche eines Wagens, wenn er Glück hatte, oder zu Fuß, wenn nicht. Oft hörten wir ihn schon, bevor wir ihn sahen, wenn er ein neues Lied trällerte, das er irgendwo aufgeschnappt hatte.
    Wir Mädchen rannten ihm alle entgegen, Lawton ging gemessenen Schrittes auf ihn zu. Mama bemühte sich, gelassen auf der Veranda zu sitzen, was sie aber nie schaffte. Er lächelte sie an, und schon lief sie vor Glück weinend den Weg hinunter, weil sie so froh war. daß seine Knochen noch ganz waren. Er nahm ihr Gesicht in die Hände, hielt sie dann auf Armeslänge von sich weg und wischte mit seinen schmutzigen Daumen ihre Tränen fort. Wir alle wollten ihn berühren und umarmen, aber das ließ er nicht zu. »Kommt mir nicht zu nah. An mir wimmelt’s«, sagte er. Hinter dem Haus zog

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