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Das Licht des Orakels

Titel: Das Licht des Orakels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victoria Hanley
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Gebete waren ein hastiges Gemurmel, das Bryn wenig sagte. Und obwohl Dai ihr die Grundzüge des Götterhimmels erklärt hatte, sprach er über die Götter meistens, als seien sie bösartige Schwindler, die den Menschen auf ihrem Lebensweg ein Bein stellten, nur um das Vergnügen zu haben, sie stolpern zu sehen. Winjessen ist verschlagen, aber vor Keldes musst du wirklich auf der Hut sein – Keldes braucht immer Nachschub für sein Königreich der Toten …
    Bryn wollte Renchald fragen, was ihn so sicher machte, sie könnte eine Helferin im Tempel sein. Aber er sprach gerade mit ihren Eltern, und sein Ring glitzerte geheimnisvoll, als er die Hand hob. »Ihr gebt also euer Einverständnis, dass Bryn nach Amarkand reisen kann?
    Dort wird sie mit anderen ihrer Art zusammen sein. Sie wird dem Orakel dienen.«
    Mit anderen ihrer Art! Bryns Herz begann heftig zu schlagen. Gab es andere wie sie auf der Welt? Vielleicht hatten sie auch Mütter, deren Gesichtszüge in ihrer Nähe niemals weich wurden. Der Meisterpriester hatte vorhin gesagt, dass Helferinnen manchmal sogar Priesterinnen des Orakels würden. Konnte es auf der Welt irgendetwas Großartigeres geben?
    Simon wischte sich mit seinem staubigen Ärmel den Schweiß vom Gesicht und hinterließ dabei Schmutzstreifen auf seiner Stirn. »Sie ist unsere einzige Tochter.«
    »Sie wird euch Ehre machen«, erwiderte Renchald.
    Nora hob die Schultern. »Wann würde sie gehen?«
    »Wenn ihr einverstanden seid, euch noch heute von ihr zu trennen, würde ich sie sofort mitnehmen«, sagte der Meisterpriester. »Wenn wir bald aufbrechen, haben meine Begleiter und ich noch genug Zeit, um Tunise bis zum Abend zu erreichen. Die Reise zum Tempel dauert dann noch zwei Tage.«
    Bryn blickte auf die Falten auf der Stirn ihres Vaters, Falten wie Kerben in einer geliebten Schnitzerei. Er streckte die Hand aus. »Komm zu mir, Mädchen.« Er legte einen Finger unter ihr Kinn. »Das ist eine Chance für dich. Willst du gehen?« Und sie wusste, wenn sie jetzt nein sagte, würde er dem Meisterpriester sein Einverständnis nicht geben.
    Während sie an ihrem Vater vorbei durch die offene Tür nach draußen blickte, nickte Bryn. Als Simon sie in die Arme nahm, hoffte sie, ihre feste Umarmung würde ihm zeigen, wie sehr er ihr fehlen würde.
    »Meinen Segen hast du, Bryn«, sagte er.
    Als Nächstes sah sie ihre Mutter an. »Meinen Segen, Tochter.« Noras Kuss auf Bryns Wange war so kalt wie ein Eisschauer. An Renchald gewandt fragte Nora: »Was soll sie mitnehmen?«
    Der Meisterpriester stand auf. »Im Tempel wird sie alles bekommen, was sie braucht.« Er blickte auf Bryn hinunter. »Außer wenn du etwas Besonderes hast, was du mitnehmen willst.«
    Im Geist ging sie ihre Habseligkeiten durch. Sie hatte ein zweites Kleid, aber es war noch schäbiger als das,
    was sie gerade trug. Keine Schuhe, und aus dem alten Mantel war sie herausgewachsen. Sie hätte sich selbst einen neuen nähen sollen, aber das hatte sie hinausgezögert, denn es war warm. Neben ihrem Bett hatte sie ein paar hübsche Steine, doch als sie in die strengen Augen des Meisterpriesters blickte, traute sie sich nicht, sie zu erwähnen.
    Renchald verneigte sich förmlich. Ihre Eltern verbeugten sich fast bis zum Boden.
    Auf der Türschwelle wandte Bryn sich um. »Sagt
    meinen Brüdern Lebewohl.«

 
2
     
    Draußen stand im hellen Licht Nirene, die Sendrata der Helferinnen. Als Sendrata war es ihre Aufgabe, alle Helferinnen im Tempel des Orakels zu beaufsichtigen und dafür zu sorgen, dass sie die Tempelregeln befolgten -
    vom Aufstehen beim Ertönen des Gongs bis zum Löschen der Kerzen am Ende des Tages.
    Nirene bedauerte es, an dieser Unternehmung beteiligt zu sein. Lieber wäre sie ihren Aufgaben im Tempel nachgekommen, wo ihre Autorität unangefochten war, statt hier unter der Hitze zu leiden und im Schatten des Meisterpriester zu stehen. Der einzige Grund, weshalb sie ihn auf seiner Reise begleiten musste, war Clea Errington.
    Clea, die sechzehnjährige Tochter Lord Bartol Erringtons, des mächtigsten Manns im Ostland Soranas und ein entfernter Vetter der Königin. Aufgewachsen in königlicher Pracht, würde Clea sich nun daran gewöhnen müssen, eine von vielen Helferinnen im Tempel zu sein. Statt Kleider aus Spitze zu tragen, wurde von ihr erwartet, die blaue Kleidung der Schüler anzuziehen. Das geräumige Schlafgemach im Schloss ihres Vaters musste sie nun gegen eine schmale Zelle tauschen, die von denen ihrer Mithelferinnen

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