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Das Licht des Orakels

Titel: Das Licht des Orakels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victoria Hanley
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der Landstraße auch die Trauer um Dai abzuspülen. Sie wünschte, sie hätte schon am Tag zuvor gewusst, wie nah er seinem Tod war. Sie hätte ihm gesagt, was es für sie bedeutete, ihn zu kennen und von ihm unterrichtet zu werden.
    Ich hätte ihm Lebewohl gesagt.
    Und worüber hatten sie stattdessen gesprochen? Er hatte gesagt, er hätte über die Rätsel des Lebens nachgedacht und dass sein eigenes Schicksal nur allzu vorhersehbar wäre. Das einzige Rätsel, das einem in Uste begegnen kann, ist das eines tollen Mädchens namens Bryn.
    Warum wurde sie in einer solchen Jauchegrube geboren?, hatte er kichernd gesagt und sein Glas gehoben.
    Hatte er wirklich gewusst, dass »sie« wegen ihr kommen würden? Und woran hatte er gedacht, als er zu ihr sagte: »Erinner dich«?
    Bryn ließ sich auf ihr Lager sinken und lag ganz still, als Nirene die Kerzen löschte.
    Sie lauschte Nirenes leisem Atem und vermisste das Herumwälzen ihrer Brüder und das leise Schnarchen ihres Vaters. Ihre Gedanken wirbelten wie die Distelwolle, der sie früher am Tag noch gefolgt war. Es schien fast unmöglich, dass sie am Morgen noch wie ein unbedachtes Kind über die Felder gerannt war. Und nun war der alte Mann tot, der sie unterrichtet und ihr seine Bücher geliehen hatte. Sie lag auf einem Bett in einer Stadt, in der sie noch nie zuvor gewesen war, neben zwei praktisch fremden Menschen, die sie offensichtlich beide nicht leiden konnten.
    Unterwegs zum Tempel des Orakels, um andere meiner Art zu treffen, dachte sie wehmütig.
    In diesem Moment hörte sie Clea leise »Pst!« rufen.
    Bryn wandte den Kopf, konnte Clea aber in der Dunkelheit nicht erkennen. »Was ist?«
    »Wenn im Tempel die Vogelweihe stattfindet«, flüsterte Clea, »weiß ich schon, welcher Vogel mich erwählt.«
    Die Vogelweihe? Hatte Dai die jemals erwähnt? Bryn hatte ein gutes Gedächtnis, aber das Einzige, woran sie sich erinnern konnte, war sein keuchendes Gelächter, als er ihr sagte, er wäre vom Vogel erwählt. Man kann nicht Priester werden, ohne erwählt worden zu sein. Jedem Priester und jeder Priesterin in diesem Land ist einmal während der Vogelweihe eine Feder gegeben worden. Er hatte sich auf die eingefallene Brust geklopft. Ich bin von einem gewöhnlichen Rotkehlchen erwählt worden. Kein Vogel der Macht, kann ich dir versichern. Bryn hatte das nicht weiter ernst genommen. Das meiste, was er vom Tempel erzählte, Worte und Gedanken vom Wein vernebelt, ergab wenig Sinn.
    »Glaubst du, du wirst von einem Vogel erwählt?«, fragte Bryn zögernd.
    »Bist du wirklich so blöd, wie du aussiehst? Von einem Vogel erwählt! Ich werde vom Geier erwählt, dem Vogel, der am meisten von allen respektiert wird. Dann werden die Verfluchungen, die ich ausspreche, von Keldes geschmiedet, dem Gott des Todes.«
    Verfluchungen? Bryn fragte sich, ob sie richtig gehört hatte. »Aber woher willst du wissen, welcher Vogel dich auserwählt?«
    Cleas Lachen klang zischend und schrill in der Dunkelheit. »Ich weiß auch, welcher Vogel dich erwählt.«
    »Welcher denn?«, platzte Bryn gedankenlos heraus.
    Ein kurzes, selbstzufriedenes Kichern. »Überhaupt keiner«, antwortete Clea, und dann sagte sie nichts mehr.

 
3
     
    Am Morgen musste Bryn noch daran denken, was Clea geflüstert hatte: Ich werde vom Geier erwählt … Dann werden die Verfluchungen, die ich ausspreche, von Keldes geschmiedet, dem Gott des Todes.
    Nach dem Frühstück gab ihr Nirene draußen einen Hut mit breiter Krempe und lange weiße Handschuhe. »Das brauchst du in der Lydenwüste.«
    Mit guten Pferden und genügend Wasser konnte man die Wüste an einem Tag durchqueren, wenn man auf der Straße blieb, die an ihrer engsten Stelle gebaut worden war. Die Straße zu verlassen, war tödlich, denn die Wüste erstreckte sich weit nach Osten und Westen.
    Mit Bolivar und zwei weiteren Soldaten gleich hinter dem Meisterpriester an der Spitze brach die Gesellschaft auf. Die anderen folgten immer zu dritt nebeneinander und wieder ritt Nirene zwischen Clea und Bryn ganz am Ende des Zugs des Tempels. Außer ihnen schien niemand unterwegs zu sein. Die Soldaten der Nachhut ritten so weit hinten, dass Bryn sie nur selten sah.
    Sie waren schon eine ganze Weile geritten, als Bryn Nirene bat, ihr die Vogelweihe zu erklären.
    Clea grinste nur spöttisch. Nirene blickte starr geradeaus, als sie antwortete: »Das ist die Feier, die zur Sommersonnenwende auf dem Gelände des Tempels stattfindet, um festzustellen, ob die Götter

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