Das Licht des Orakels
eine Helferin, und eine Priesterin wird sie niemals werden.« Sie grinste. »Die Götter haben sie nicht für würdig befunden.«
Nirene war tief verletzt von Cleas Worten – so sehr sie auch stimmen mochten – und kochte vor Wut. Am liebsten hätte sie Clea vom Pferd gestoßen und zugesehen, wie sie durch den Schmutz geschleift wurde. Das hätte sie als Sendrata der Helferinnen anordnen können, doch Cleas Vater war ein zu bedeutender Mäzen des Tempels, um sein Missfallen zu riskieren. So unterdrückte Nirene ihren Ärger und schwieg.
Auch Bryn war still, als sie erneut durch das Dorf Uste ritten. Die Leute standen vor ihren erbärmlichen kleinen Werkstätten und verbeugten sich. Ein schmutziger Bursche mit rußigem Haar winkte Bryn heftig zu, und als sie zurückwinkte, ging ein breites Grinsen über sein Gesicht.
Am Ortsrand hielt der Meisterpriester vor einem verwahrlosten Priesterhaus an. Das Gebäude war einst rot angestrichen gewesen, wie es sich gehörte, doch es waren nur noch einzelne Streifen abbröckelnder, verblasster Farbe zu sehen. Der in die Tür geschnitzte Knoten der Götter war in dem verwitterten Holz kaum noch zu erkennen.
Beim Absteigen wäre Bryn fast gestürzt. Sie biss sich auf die Lippen und blickte ängstlich zum Priesterhaus.
Der Meisterpriester näherte sich zu Fuß. »Komm, Bryn«, sagte er. »Und du auch, Nirene.«
Sie stiegen die kaputten Stufen hoch. Die Tür führte in einen muffigen Vorraum. Der unverkennbare Geruch nach saurem Wein empfing sie, als sie das eigentliche Priesterhaus betraten, in dem einige brüchige Bänke dem Altar gegenüberstanden. Eine einzelne Kerze auf einem schmuddeligen Altartuch brannte vor dem kaum noch erkennbaren Bild des Gottes Solz. Ein alter Mann in abgerissener Robe schnarchte ausgestreckt vor ein paar mit Büchern voll gestopften Regalbrettern. Um ihn herum lagen mehrere leere Weinflaschen.
Bryn stürzte zu ihm, beugte sich über ihn und rüttelte ihn sanft an der Schulter. Der Weingestank war überwältigend.
»Dai!«, wisperte sie. »Dai, wach auf!«
Er bewegte sich etwas, öffnete aber nicht die Augen.
»Bryn?«, murmelte er. »Mach weiter – nimm dir irgendein Buch.«
»Dai!«
»Tritt zurück«, sagte der Meisterpriester.
Das Mädchen stolperte, als es hastig ein paar Schritte nach hinten wich.
Renchalds tiefe Stimme klang unheimlich in dem ärmlichen Priesterhaus. »Willst du deinem Meisterpriester keine Ehrerbietung zeigen, Dai?« Sein goldener Ring mit dem Götterknoten funkelte in dem Lichtstreifen, in dem Staubflocken tanzten.
Dais Augenlider flatterten. Mit geröteten Augen blickte er zu Renchald auf und versuchte vergeblich, sich hochzurappeln, kippte aber immer wieder um. »Verzeihung«, nuschelte er.
Nirene konnte ihren Abscheu kaum verbergen. Sturzbetrunken, und das direkt vor den Augen der Götter! Na, jedenfalls würde dieser so genannte Priester nicht mehr lange leben. Mit erfahrenem Blick schätzte sie ihn ein: Nicht nur sehr alt, sondern auch krank genug, um auf der Schwelle des Todes zu stehen.
Dai gab den Versuch auf, auf die Beine zu kommen.
Er saß da und sein grauer Kopf pendelte von einer Seite zur andern. Sein trüber Blick fand Bryn, und er fing an, auf eine seltsame, verzweifelte Art vor sich hin zu kichern. »Leb wohl«, sagte er. »Ich hab’s immer gewusst
… sie würden wegen dir kommen, Bryn.« Seine Hände zeigten flatternd zur Tür, als er zum Meisterpriester hochsah.
»Du hast es gewusst?«, fragte sie offensichtlich verwirrt.
»Erinner dich …«, fing Dai an, aber dann stöhnte er schwer und umklammerte seine Brust. Sein schweres Keuchen erfüllte den Raum, während er um Atem rang.
»Dai?« Schnell kniete sich Bryn neben ihn auf den Boden. »Dai?«
»Nein«, stieß er aus. Er warf sich zurück, sein ganzer Körper zuckte wie der eines verendenden Fischs, die Augen weit aufgerissen und hervorquellend. Seine Haut begann sich blau zu verfärben.
Bryn griff nach einem seiner flatternden Arme, aber er zog ihn weg. Er schien sie gar nicht wahrzunehmen, sein Blick war fest auf die gegenüberliegende Wand geheftet.
Sie sah sich verzweifelt um. »Helft ihm doch!«, schrie sie.
Der Meisterpriester kniete neben ihr nieder. Mit seinen großen Händen nahm er sanft den Kopf des alten Mannes, der sich immer weiter herumwarf, dann aber versteifte. Ein langer, tiefer Seufzer entfuhr ihm, und schließlich lag er still.
Bryn rüttelte ihn an der Schulter. »Dai, bitte! Bitte!«
Als er sich nicht
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