Das Licht Von Atlantis
klüger gewesen, sie in dem Glauben zu lassen, sie habe ihr Kind für immer verloren.
Tiriki klammerte sich verschämt an Deoris, und Rajasta legte die Hand auf ihren seidigen Kopf. »Hab' keine Angst, Kleine; ich kannte deine Mutter, als sie jünger war als du jetzt, und auch deinen Vater habe ich gut gekannt, wir waren miteinander verwandt und du kannst mich ruhig Onkel nennen.«
Nari lugte hinter seiner Schwester hervor. »Mein Vater ist ein Priester!« sagte er keck. »Bist du auch mein Onkel, Wächter?«
»Deiner auch«, sagte Rajasta und strich ihm über die wirren Locken. »Geht es Domaris gut, meine Tochter?«
Deoris wurde vor Bestürzung blass. »Hast du ihren Brief denn nicht erhalten? Weißt du nicht, wie es um sie steht?«
Rajasta wechselte die Farbe. »Nein, ich weiß von gar nichts; im Tempel geht alles drunter und drüber, Deoris, wir bekommen keine Briefe mehr. Ich bin in Tempelangelegenheiten gekommen, obwohl ich mich natürlich darauf gefreut habe, euch beide wiederzusehen. Was ist mit Domaris?«
»Sie liegt im Sterben.« Deoris versagte die Stimme.
Die bleichen Wangen des Priesters wirkten eingefallen - zum erstenmal bemerkte Deoris, dass Rajasta ein müder, alter Mann geworden war. »Ich hatte in letzter Zeit Angst um sie, denn ich spürte irgendwie, dass ein Verhängnis über ihr lag.«
Der Wächter sah nun in Micails junges, stolzes Gesicht. »Du siehst deinem Vater inzwischen sehr ähnlich, mein Sohn. Du hast seine Augen...« Bei sich dachte Rajasta: Und Domaris gleicht er ebenfalls . Er war tief bekümmert, dass Domaris, die er mehr als eine Tochter geliebt hatte - keiner seiner eigenen Nachkommen war ihm auch nur halb so teuer gewesen -, schon so früh sterben musste. Der wesentlichste Teil von Domaris , erinnerte er sich jedoch traurig, ist ohnehin schon lange tot...
Vor der Wohnresidenz der Priesterinnen schickten Rajasta und Deoris die Kinder fort. Sie stiegen allein die Treppen hinauf.
»Du wirst sehen, wie sie sich verändert hat«, sagte Deoris vorsichtig.
»Ich kann es mir vorstellen.« Rajastas Stimme verriet seinen tiefen Kummer, und er stützte sich schwer auf den Arm der jungen Frau. Deoris klopfte leise an die Tür.
»Deoris?« fragte eine schwache Stimme von drinnen. Deoris trat zur Seite, um dem Wächter den Vortritt zu lassen. Sie hörte, wie Domaris noch einmal »Deoris?« fragte - und dann vernahm sie einen glücklichen Aufschrei: »Rajasta, Rajasta - mein Vater!«
Domaris' Stimme war nur noch ein Schluchzen, und Rajasta eilte zu ihr. Sie versuchte sich aufzurichten, aber ihr Gesicht verzog sich vor Schmerz und sie sank in die Kissen zurück. Rajasta nahm sie behutsam in die Arme. »Domaris, mein Kind, mein liebes Kind!«
Deoris entfernte sich leise und ließ die beiden allein.
10. KARMA
Deoris stand auf der Terrasse und lauschte auf die Rufe der Tempelkinder in den unteren Gärten. Da hörte sie leise Schritte hinter sich, drehte sich um und erblickte Reio-ta, der sie freundlich ansah.
»Ist Rajasta bei Domaris?« erkundigte er sich.
Deoris nickte, und ihr Gesicht wurde traurig. »Nur die Hoffnung, ihn wiederzusehen, hat sie am Leben gehalten. Jetzt wird es nicht mehr lange dauern...«
Reio-ta ergriff ihre Hand. »Du darfst nicht trauern, Deoris. Sie ist seit vielen Jahren - nicht mehr richtig lebendig gewesen.«
»Ich trauere nicht um sie«, gestand Deoris, »sondern um mich. Ich bin viel zu selbstsüchtig - das bin ich immer gewesen -, und wenn sie geht, bin ich ganz allein.«
»Nein«, widersprach Reio-ta, »du wirst nicht allein sein.« Plötzlich fand sich Deoris in seinen Armen wieder, und sein Mund lag auf ihrem. »Deoris«, flüsterte er, »ich habe dich von Anfang an geliebt! Von dem Augenblick an, da ich aus tiefer geistiger Umnachtung erwachte und dich auf dem Boden eines Tempels liegen sah, der mir fremd war, zu Füßen eines Graumantels, von dem ich nicht einmal den Namen wusste. Und als ich deine schrecklichen Verbrennungen sah, da liebte ich dich auch, Deoris! Nur das gab mir die Kraft zum - zum Widerstand -«
Sachlich nannte Deoris den Namen, über den Reio-tas Zunge nach so vielen Jahren immer noch stolperte. »Zum Widerstand gegen Riveda...«
»Könntest du lernen, mich zu lieben?« fragte er bittend. »Oder hält die Vergangenheit dich noch immer gefangen?«
Stumm legte Deoris ihre Hand in seine. Ihr wurde wohl vor Vertrauen und Hoffnung, und sie erkannte, ohne das Gefühl näher zu analysieren, dass sie ihr Leben lang darauf
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