Das Licht Von Atlantis
Vorstellungskraft weit hinaus. Zwar war sie Akoluthin der Mysterien, doch die Tiefe und Klarheit seiner Wahrnehmungen sowie die Sicherheit seines Bewusstseins erfüllten sie mit einer Hochachtung, die niemals mehr schwinden sollte. Und seine ausdauernde Tapferkeit und Entschlossenheit weckten in ihr ein Gefühl, das der Verehrung nahe kam. Gerade die Behinderung dieses Mannes verkündete die ihm eigene menschliche Größe; seine große Demut war eins mit einem Stolz, der die übliche Bedeutung dieses Wortes vergessen machte... Domaris erkannte, wie hier Emotionen, die einen anderen rasend oder rebellisch gemacht hätten, von einem starken Willen niedergehalten wurden - und plötzlich schrak sie zusammen. Sie selbst stand im Mittelpunkt seiner Gedanken! Ein heißes Erröten, das selbst im Sternenlicht noch sichtbar war, breitete sich auf ihrem Gesicht aus.
Schnell, aber doch behutsam, so dass die plötzliche Leere nicht schmerzte, zog sie sich von der Berührung zurück. Der Gedanke, bei dem sie ihn überrascht hatte, war so zart und schön, dass er ihr wie eine Weihe war. Aber es war Micons ureigenster Gedanke und es rief ein köstliches Schuldgefühl in ihr hervor, dass sie ihn erhascht hatte.
Micon spürte, was vorgefallen war, und er löste sich vorsichtig von ihr, wenn auch mit Bedauern. Er nahm ihre Verwirrung wahr; Domaris hatte sich noch nie Gedanken über ihre Wirkung auf Männer gemacht.
Schließlich zerriss Deoris, die die beiden mit einer Mischung aus Bestürzung und Unwillen beobachtete, die letzten Reste der noch vorhandenen hauchdünnen Verbindung. »Micon, du hast dich überanstrengt«, rief sie vorwurfsvoll und breitete ihren wollenen Mantel für ihn auf dem Gras aus.
Rajasta setzte hinzu: »Ruh dich aus, mein Bruder.«
»Es war nur eine vorübergehende Schwäche«, murmelte Micon. Zufrieden, sich neben Domaris ausstrecken zu können, ließ er ihnen jedoch ihren Willen. Kurz darauf spürte er, wie ihre warme Hand sich in einer federleichten Berührung, die seinen verkrüppelten Fingern nicht wehtat, um die seine schloss.
Rajasta segnete die beiden stumm, und Deoris, die seinen Gesichtsausdruck bemerkte, schluckte schwer. Was geschieht mit Domaris? Ihre Schwester veränderte sich vor ihren Augen, und Deoris, die sich an das klammerte, was das einzig Sichere in der ständigen Veränderungen unterworfenen Welt des Tempels gewesen war, erschrak. In diesem Augenblick hasste sie Micon beinahe, und es machte sie wütend, dass Rajasta die Sache offensichtlich guthieß. Sie hob die Augen und starrte, wild entschlossen, ja nicht zu schluchzen, durch einen Schleier zorniger Tränen die Sterne an.
Eine neue Stimme begrüßte die Anwesenden. Deoris zuckte zusammen und drehte sich um. Eine merkwürdige, unbekannte Erregung, halb Verlockung und halb Furcht, ließ sie erschauern. Riveda! Deoris, die sich schon zuvor in einem Zustand fieberhafter Nervosität befunden hatte, wich zurück, als der dunkle Schatten über sie fiel und das Sternenlicht auslöschte. Der Mann war unheimlich; aber sie war nicht fähig, den Blick von ihm abzuwenden.
Rivedas höflicher, seltsam ritueller Gruß schloss sie alle ein. Er ließ sich auf das Gras niedersinken. »Ach, du betrachtest mit deinen Akoluthen die Sterne, Rajasta? Domaris, was sagen die Sterne über mich?« Obwohl die Stimme des Adepten gedämpft und höflich klang, wirkte sie so, als mache er sich über den Brauch als ein kindisches Ritual lustig.
Domaris runzelte die Stirn. Mit einiger Mühe gelang es ihr, ihre Aufmerksamkeit wieder der unmittelbaren Umgebung zuzuwenden. Sie sprach mit unterkühlter Höflichkeit: »Ich bin keine Wahrsagerin, Riveda. Was sollten die Sterne über dich schon sagen?«
»Über mich ebenso Gutes wie über alle anderen«, ergänzte Riveda mit spöttischem Lachen. »Oder ebenso Schlechtes... Komm, Deoris, setz dich zu mir.«
Das kleine Mädchen sah Domaris bittend an, aber niemand sprach, und niemand erhob mit Blicken Einspruch. So stand sie auf, und das kurze, enggegürtete Kleid umgab sie wie ein Schimmer sternenbesetzten Blaus. Sie ging zu Riveda und setzte sich neben ihn ins Gras. Der Adept lächelte.
»Erzähl uns eine Geschichte, kleine Skriptorin«, bat er, nur halb im Ernst. Deoris schüttelte verschämt den Kopf, aber Riveda ließ nicht locker. »Dann sing für uns! Ich habe gehört, du... deine Stimme sei so schön.«
Das Kind geriet in noch größere Verlegenheit. Sie entzog Riveda ihre Hand und schüttelte die dunklen
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