Das Licht Von Atlantis
glücklich. »So gut wie selten, mein Bruder.«
Rajastas Blick schweifte kurz über Domaris und Arvath hin. »Geht, meine Kinder, und ruht euch aus... Micon, komm mit mir.«
Arvath nahm Domaris' Hand und zog das Mädchen auf den Pfad. Fast zu müde, um sich auf den Füßen zu halten, stützte sie sich schwer auf den ihr gebotenen Arm. Dann drehte sie sich um und legte für einen Augenblick den Kopf an seine Brust.
»Du bist sehr müde, meine Schwester«, sagte Arvath beinahe vorwurfsvoll. Jetzt ganz der Beschützer, führte er sie den Hügel hinab. Er zog sie eng an sich, und ihr Kopf ruhte an seiner Schulter.
Rajasta sah ihnen seufzend nach. Dann berührte er vorsichtig Micons Ellenbogen und führte den Initiierten in die entgegengesetzte Richtung, zur Meeresküste. Micon schritt sicher aus, als brauchte er Rajastas Hilfe nicht. Der Gesichtsausdruck des Atlanters war traumverloren.
Einige Minuten wanderten sie schweigend dahin. Dann sprach Rajasta, ohne den langsamen Rhythmus ihrer Schritte zu unterbrechen. »Sie gehört zu den überaus seltenen Frauen, die nicht nur Partnerin, sondern auch Kameradin sind. Du bist gesegnet.«
»Und sie ist - verflucht«, flüsterte Micon fast unhörbar.
Rajasta keuchte auf.
Micon machte eine seltsame kleine Geste, und das leichtverzerrte Lächeln trat wieder auf seine Lippen. »Ich liebe sie, Rajasta, ich liebe sie viel zu sehr, um sie zu verletzen, und ich kann ihr nichts geben! Kein Gelübde, keine Hoffnung auf wirkliches Glück, nur Kummer und Schmerz und vielleicht Schande...«
»Sei kein Narr«, war Rajastas kurze Antwort. »Du vergisst deine eigenen Lehren. Liebe - gleichgültig wann und wo man sie findet, und dauere sie auch nur ein paar Augenblicke - kann nichts anderes als Freude bringen. Es sei denn, sie wird zerstört. Das, was sich zwischen euch beiden abspielt, ist größer als ihr. Stehe ihm nicht im Weg - und dir selbst auch nicht!«
Sie hatten auf einem kleinen Felsvorsprung haltgemacht, von dem aus sich ein weiter Blick über die Küste bot. Unter ihnen donnerte das Meer gegen das Land, unaufhörlich, unerbittlich. Micon schien den Priester des Lichts mit seinen blinden Augen zu mustern, und Rajasta hatte das Gefühl, einen Fremden vor sich zu sehen, so seltsam verändert kam ihm der Atlanter vor.
»Ich hoffe, du hast recht«, sagte Micon endlich. Noch immer starrte er in das Gesicht, das er nicht sehen konnte.
II. Domaris
»Wenn eine Schriftrolle schlechte Nachrichten enthält, ist es dann die Schuld der Schriftrolle oder die Schuld des Inhalts, der auf der Rolle steht? Wenn die Schriftrolle gute Nachrichten enthält, worin unterscheidet sie sich dann von der Rolle mit den schlechten Nachrichten?
Wir beginnen das Leben mit einer scheinbar leeren Tafel - und obwohl die Schrift, die nach und nach auf dieser Tafel erscheint, nicht unsere eigene ist, bestimmt unsere Beurteilung der darauf geschriebenen Dinge, was wir sind und was wir werden. Auf ähnliche Weise wird unser Werk durch die Anwendung, die andere Menschen davon machen, beurteilt... Das wirft die Frage auf: Wie können wir kontrollieren, was mit unserem Werk geschieht, wenn es aus unseren Händen in die von Menschen übergeht, über die wir keine Kontrolle haben?
In den frühesten Lehren der Priesterkaste heißt es: Wenn wir unsere Arbeit mit dem Wunsch und Begehren verrichten, sie möge dem Wohle der Menschheit und der Welt dienen, geben wir ihr unsern Segen mit, und dieser hemmt den Benutzer, sie zu zerstörerischen Zwecken zu verwenden. Das ist zwar nicht unwahr - aber jemanden hemmen heißt nicht, seine Absicht zu vereiteln.«
Aus der Einführung in den Kodex des Adepten Riveda
1. SAKRAMENTE
Schwerer Regen prasselte auf die Dächer und Höfe und Gärten des Tempelbezirks nieder, ein Regen, der heftig in den durstigen Boden einsank, mit melodischem Plätschern in Teiche und Springbrunnen spritzte, der Plattenwege und Rasenflächen überflutete und überall den Boden aufweichte. Vielleicht war die Tempelbibliothek deshalb so überfüllt. Jeder Schemel, jeder Tisch war besetzt, auf jeder Bank saß jemand, den Kopf über Schriftrollen gebeugt.
Domaris blieb im Eingang stehen und suchte mit den Augen Micon, der nicht in seiner üblichen Nische saß. Sie sah die weißen Kapuzen der Priester, die schweren grauen Kutten der Magier, die Stirnbänder der Priesterinnen, die bloßen Köpfe der Studenten und Skriptoren... Schließlich durchfuhr sie ein freudiger Schreck, denn sie hatte Micon entdeckt.
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