Das Licht Von Atlantis
Grashalme wiegten sich im Wind, und ebenso wie sie schwankten ihre Gedanken, wirr und ungeordnet. Sie hatte Angst, klar zu denken.
Als die Sonne den Zenit überschritten hatte, richtete sich Domaris, wie von einem Instinkt geleitet, auf und schaute zum Ufer. Micon wanderte langsam am Strand entlang. Sie sprang auf und schnellen ungeduldigen Schrittes, das offene Haar um die Taille flatternd, das Kleid gebauscht im Wind, rannte sie auf ihn zu. Micon hörte die raschen, ungleichmäßigen Schritte und blieb stehen.
»Micon!«
»Domaris - wo bist du?« Sein blindes Gesicht folgte dem Klang ihrer Stimme. Sie eilte zu ihm. Einen Schritt vor ihm hielt sie an, und diesmal tat es ihr nicht leid, dass sie sich ihm nicht in die Arme werfen konnte. Sie berührte vorsichtig seinen Arm und hielt ihm das Gesicht zum Kuss entgegen.
Seine Lippen verweilten einen Augenblick länger als sonst auf ihrem Mund. Dann fragte er leise: »Herz der Flamme, warum bist du so aufgeregt? Bringst du mir Neuigkeiten?«
»Ja, ich bringe Neuigkeiten!« stieß sie triumphierend hervor, doch dann versagte ihr die Stimme. Behutsam ergriff sie Micons Hände, legte sie auf ihren Leib in der stummen Bitte, er möge verstehen, ohne dass sie es ihm sagen musste... Vielleicht lass er ihre Gedanken; vielleicht erriet er sie nur aus ihrer Geste. Wie es auch gewesen sein mochte, sein Gesicht hellte sich auf, und er streckte seine Arme aus, um sie an sich zu ziehen.
»Du bringst mir Licht«, flüsterte er und küsste sie noch einmal. Domaris legte das Gesicht an seine Brust. »Jetzt ist es sicher, Geliebter. Diesmal ist es sicher! Ich ahne es seit Wochen, aber ich wollte nicht darüber sprechen, weil ich fürchtete, dass - aber nun gibt es keinen Zweifel mehr! Er, unser Sohn , hat sich heute zum erstenmal bewegt!«
»Domaris - Geliebte -« Mehr brachte er nicht heraus. Domaris fühlte seine Tränen aus den blinden Augen auf ihr Gesicht fallen. Seine Hände, gewöhnlich streng beherrscht, zitterten so heftig, dass er sie kaum zu bewegen vermochte. Überwältigt von ihrer Liebe, schmiegte Domaris sich an ihn.
»Meine Geliebte, meine Gesegnete...« Mit einer Verehrung, die das Mädchen schmerzlich berührte und ängstigte, sank Micon im Sand auf die Knie. Er ergriff ihre Hände, drückte sie an seine Wangen, seine Lippen. »Trägerin des Lichts, es ist mein Leben, das du in dir hast, meine Freiheit«, flüsterte er.
»Micon! Ich liebe dich, ich liebe dich«, stammelte Domaris unzusammenhängend, und es gab nichts, was sie sonst hätte sagen können.
Der geweihte Mann erhob sich und gewann die Beherrschung halbwegs zurück. Doch er zitterte immer noch etwas. Sanft trocknete er ihre Tränen. »Domaris«, begann er zärtlich und ernst, »es - es gibt keinen Weg, es dir zu sagen - ich meine, ich will es versuchen, aber...« Sein Gesicht wurde noch ernster, und der Ausdruck von Schmerz, Bedauern und Ungewissheit bohrte sich Domaris ins Herz.
»Domaris«, sprach er, in einem tiefen, beherrschten Ton. »Ich will versuchen«, gelobte er feierlich, »bei dir zu bleiben, bis unser Sohn geboren ist.«
Domaris wusste, dass er damit den Anfang vom Ende angekündigt hatte.
6. BEI DER SCHWESTERNSCHAFT
Vom Tempel der Caratra aus konnte man auf den Schrein und den heiligen Teich sehen. Diese Kultstätte war eines der schönsten Gebäude im ganzen Tempelbezirk. Sie war aus milchweißem Stein erbaut, durchzogen von golden schimmernden, an Opale erinnernden Adern. Langgestreckte Gärten, geschützt durch Baumreihen, an denen Schlingpflanzen herabhingen, umgaben Teich und Tempel. Kühle Springbrunnen sprudelten in den Innenhöfen, und das ganze Jahr hindurch blühte dort ein Überfluss an Blumen.
Innerhalb dieser weißen, schimmernden Mauern wurden alle Kinder des Tempels geboren, ob die Mutter eine Sklavin oder die Hohepriesterin selbst war. Hierher wurden auch die jungen Mädchen des Tempels geschickt, um den Dienst abzuleisten, den jede Frau der Mutter aller Menschen schuldig war. Sie halfen den Priesterinnen, sie pflegten die jungen Mütter und die Neugeborenen, und wenn ein Mädchen innerhalb der Priesterkaste einen genügend hohen Rang einnahm, durfte es sogar die Geheimnisse der Geburtshilfe erlernen. Nach dem ersten Dienst verbrachten die Mädchen jedes Jahr eine bestimmte Zeit - Sklavinnen und Frauen aus dem Volk einen Tag, Akoluthinnen und Priesterinnen einen Monat - im Tempel der Mutter. Dieser Tribut wurde weder der geringsten Sklavin noch der höchsten
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