Das Licht von Shambala
grauen Monsunwolken verflüchtigt, und im letzten Licht des Tages, das über die Berggrate fiel, erblickten Sarah und ihre Gefährten den Kailash in seiner ganzen Pracht.
Es war überwältigend.
Wie ein riesiger Tempel, dessen Wände aus Granit bestanden und dessen spitzes Dach von Schnee bedeckt war, schälte sich der Berg aus den Wolken, und es nahm niemanden mehr Wunder, dass der Kailash in so vielen Religionen Asiens eine zentrale Stellung einnahm. Sonnenlicht berührte die breite, von waagrechten weißen Streifen durchzogene Westflanke des Berges und tauchte ihn in goldenen Schein, verlieh ihm eine geradezu überirdische Majestät. Unerreichbar fern wirkte er und doch zum Greifen nah, und zumindest für einen kurzen Augenblick hatte es den Anschein, als ob keine Macht der Welt diesen Ort entweihen oder gar gefährden könnte.
Die Mönche verharrten reglos und murmelten einmal mehr ihre Mantren, und auch Sarah, die vor langer Zeit schon einmal an diesem Ort gewesen war, flüsterte ein Gebet. Hieronymos hatte das Haupt gesenkt und war niedergekniet, und selbst der sonst so nüchterne Hingis schien von dem Anblick ergriffen. Mehrmals nahm er die Brille ab und wischte sich die Augen. Von solcher Anteilnahme war Abramowitsch freilich weit entfernt, aber auch er sagte kein Wort und starrte schweigend auf das Naturschauspiel - vielleicht, weil er in diesem Augenblick begriff, dass der Weltenberg keine Ausgeburt der Phantasie war, sondern tatsächlich existierte.
Wie lange sich der Kailash ihnen gezeigt hatte, wusste Sarah anschließend nicht mehr zu sagen. So unvermittelt, wie er aus den Wolken aufgetaucht war, verschwand er in den Schatten der heraufziehenden Nacht. Dunkelheit brach herein, erfasste zuerst die Täler und schließlich auch den Giganten. In dem silbernen Licht allerdings, das der Mond auf die karge Erde warf, waren seine riesenhaften Formen noch zu erahnen wie die verblassende Erinnerung an einen vergangenen Traum.
Nachdem sie die Nacht im Zelt des Nomaden verbracht hatten, setzten Sarah und ihre Gefährten anderntags die Reise fort.
Immer näher kamen sie nun dem Berg, der sie zunächst noch aus der Ferne grüßte, dann aber hinter den steil aufragenden und von bunten Steinbändern durchzogenen Felswänden seiner südlichen Ausläufer verschwand. Ein wahres Labyrinth aus Granit schien sich am Fuß des Weltenberges zu erstrecken, doch zum ersten Mal hatte Sarah den Eindruck, den Weg zu kennen.
Als sie diesen Ort zuletzt besucht hatte, war sie noch ein Kind gewesen, und natürlich hatten sich ihr andere Dinge eingeprägt, als es bei einem Erwachsenen der Fall gewesen wäre, zumal sie auf der Flucht und völlig verängstigt gewesen war. Dennoch glaubte sie, die ein oder andere der grauen Felsformationen wiederzuerkennen, die von Einlagerungen orangefarbenen und blauen Gesteins gebändert wurden. Ganz sicher war sie sich, was eine aus Lehm und Steinen gemauerte chorta betraf, die am Wegesrand stand. Seile spannten sich von der Spitze bis zum Boden, an denen Hunderte ausgebleichter und vom Wind zerfetzter Fähnchen flatterten; rings um die steinerne Säule, die als Symbol für den buddhistischen Glauben stand, hatten Pilger unzählige mani abgelegt: Steine, in die sie Mantren und Gebetssprüche geritzt hatten.
Sarah wusste, dass sie diese Stelle schon einmal passiert, mehr noch, dass sie selbst einen Stein hier abgelegt hatte, auf dem sie um Beistand für ihre Flucht gebeten hatte.
Vor langer Zeit ...
»Erinnert Ihr Euch?«, fragte Abt Ston-Pa, der neben ihr marschierte.
»Ich denke, ja.« Sie nickte. Es war seltsam, die Barrieren des Vergessens nicht mehr in sich zu fühlen. Gleichwohl bezweifelte Sarah, dass die Dunkelzeit bereits alle ihre Geheimnisse preisgegeben hatte.
Sie war die Tochter eines britischen Offiziers und einer unbekannten, vermutlich indischen Mutter, und hätte jene geheimnisvolle Frau, die man respektvoll Mahasiddha nannte, sie nicht aus dem Waisenhaus von Bombay geholt, so hätte ihr Leben fraglos einen völlig anderen Verlauf genommen. Sarah entsann sich einiger Lektionen, die Mahasiddha ihr erteilt hatte, aber es waren kaum persönliche Erinnerungen dabei. Vielleicht deshalb, weil all diese Dinge schon so lange zurücklagen; vielleicht aber auch, weil das Ritual des pho-wa niemals abgeschlossen worden war. Sarah hatte vieles erfahren und einige Antworten erhalten - das große Rätsel jedoch war noch immer ungelöst, und mit jedem Gesteinsbrocken und jeder Felsspalte,
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