Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Licht von Shambala

Das Licht von Shambala

Titel: Das Licht von Shambala Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
Vom Netzwerk:
wüsste ich nicht, wie ich mich entscheiden würde, wenn es das Wohl meines Geliebten gegen das der Menschheit abzuwägen gälte.
    Keiner von uns kann erahnen, was uns auf dieser Reise widerfahren wird, und meine Hände zittern, während ich diese Zeilen schreibe, denn es sind die letzten, die ich zu Papier bringe. Schon in Kürze werden wir uns von Abt Ston- Pa und seinen Mitbrüdern trennen, und ich werde ihnen mein Tagebuch, das mich auf so vielen Reisen begleitet hat, anvertrauen, auf dass sie es an Ufuk weitergeben, der es hüten und für den Fall, dass ich nicht zurückkehre, nach Gutdünken damit verfahren soll.
    Ich bin nicht abergläubisch, aber ich kann nicht verhehlen, dass die Tatsache, dass das kleine leinenbeschlagene Buch fast voll ist und ich auf der letzten Seite angelangt bin, mich mit einer gewissen Unruhe erfüllt ...
     
    T AL VON D ARCHEN
    W ESTTIBET
    21. JUNI 1885
     
    Die kahlen Berghänge von Tirthapuri hatten sie weit hinter sich gelassen, ebenso wie das Tal der heißen Quellen. Durch eine Landschaft, deren karge, urwüchsige Schönheit Sarah und ihren Begleitern den Atem raubte, zogen sie weiter nach Südosten, dem Kailash entgegen.
    Sie folgten der Straße, auf der der König von Ladakh einmal im Jahr nach Lhasa zog, um den Dalai Lama im Ritual des lop-chag 50 seiner Loyalität zu versichern, und auf der in den Sommermonaten zahllose Pilger zum heiligen Berg zu wandern pflegten - aber wider Erwarten war der Weg menschenleer, was die Einsamkeit und schiere Größe der Landschaft, durch die beständig der raue Ostwind strich, nur noch deutlicher zu Bewusstsein brachte.
    »Das ist kein gutes Zeichen«, meinte Abt Ston-Pa überzeugt. »Wenn die Pilger dem heiligen Berg fernbleiben, ist das ein böses Omen.«
    »Wahrscheinlich haben sie von den Einäugigen gehört und fürchten sich«, vermutete Sarah.
    »Wahrscheinlich«, bestätigte der Mönch, aber die Erklärung schien ihn nicht zu beruhigen. Als wollten sich seine dunklen Ahnungen bewahrheiten, verfinsterte sich der Himmel zunehmend, je weiter sie nach Nordosten gelangten. Schließlich verschwanden die schneebedeckten Berggipfel ganz darin, und man hatte den Eindruck, eine dunkle Decke hätte sich über die Erde gebreitet. Auch tagsüber herrschte mattes Zwielicht, und in der Nacht hielten die Mönche Wache und wechselten sich darin ab, ihre Gebetsmühlen zu drehen und segensreiche Mantren zu murmeln. Entsprechend fand Sarah nur wenig Schlaf; ihre Ängste und Befürchtungen ließen sie nicht los, und ihre Unruhe wuchs mit jeder Stunde.
    Was würde dort am Kailash auf sie warten?
    Abt Ston-Pa schien überzeugt, dass der Kampf zwischen Licht und Finsternis, wie er es nannte, spiritueller Natur sein würde, vergleichbar dem Duell, das sich der Yogi Milarepa und der Meister des bon einst um den Berg geliefert hatten.
    Abramowitsch war da ganz anderer Ansicht, und zur Ausnahme teilte Sarah seine Meinung; die wenigen Waffen, die ihnen nach dem Absturz des Luftschiffs verblieben waren - ein Berdan-Gewehr und ein Krnka-Schnelllader, dazu Sarahs Revolver und Hieronymos' Sichelklinge -, führten sie mit und waren entschlossen, sie auch einzusetzen. Aber würden sie ausreichen, um einen gefährlichen und zum Äußersten entschlossenen Gegner zu bezwingen? Die früheren Begegnungen mit der Bruderschaft hatten Sarah gelehrt, dass diese mit allen Mitteln kämpfte, zumal, wenn die finale Entscheidung bevorstand und die Sektierer sich am Ziel ihrer Träume wähnten.
    Am fünften Tag nach ihrer Abreise aus Tirthapuri konnten Sarah und ihre Gefährten erstmals einen Blick auf das Ziel ihrer Reise erheischen. Am Morgen hatten sie Darchen hinter sich gelassen, ein Dorf, das am südlichen Ausläufer des Kailash lag und für gewöhnlich vor bußfertigen Pilgern überquoll. Aber auch hier waren die Gassen verlassen, die Siedlung selbst wie ausgestorben, und einmal mehr ließ Ston-Pa verlauten, dass dies kein gutes Zeichen wäre. Ein dunkler Schatten, so der Abt, sei über das Land gekommen.
    Nichtsdestotrotz folgten sie dem Pfad nach Norden, wobei der heftige Regen, der nach Mittag einsetzte, die Straße aufweichte und das Vorankommen erschwerte. Im gur 51 eines Nomaden, der ihnen bereitwillig Buttertee anbot, augenscheinlich froh über die Gelegenheit, Mönche zu bewirten und so etwas für sein Seelenheil tun zu können, fanden sie Zuflucht vor den Sturzbächen, die sich aus dem Himmel ergossen. Als die Regenfront endlich weitergezogen war, hatten sich auch die

Weitere Kostenlose Bücher