Das Licht von Shambala
recht. Sie waren am Ziel ihrer Reise angelangt, dort, wo einst die Ersten regiert und die Kulturen ihren Anfang genommen hatten - wenn man geneigt war, derlei Dinge zu glauben. Für denjenigen, der dazu bereit war, bedeutete der Stollen den Zugang zu einer anderen Welt. Wer in seiner alten Denkweise verhaftet blieb, würde nichts anderes sehen als einen in den Fels gehauenen Gang mit mystischen Zeichen.
Abramowitsch ließ keinen Zweifel daran aufkommen, welcher Fraktion er angehörte. Längst hatte er sein Gewehr von der Schulter genommen und hielt es im Anschlag. »Worauf warten wir?«
Sie gingen weiter, vorsichtiger jetzt und auf einen Kampf gefasst. Von ihrem geheimnisvollen Gegner bekamen sie jedoch nichts zu sehen. Der Stollen verlief steil bergan, und schließlich waren wieder Stufen in den Boden eingelassen, die das Vorankommen eigentlich erleichtern sollten. Infolge der dünnen, stickigen Luft, die noch dazu eisig kalt war, geriet der Weg jedoch zur Strapaze.
Je höher es hinaufging, desto diffuser wurde das Licht, und bisweilen flirrte sogar loser Firn im bläulichen Schein. Ein Blick auf ihre Taschenuhr verriet Sarah, dass sich der Tag draußen dem Ende neigte; die Sonne ging unter und die Temperaturen sanken.
Die Gefährten verzichteten dennoch darauf, die Fackeln wieder zu entzünden. Ihr Schein wäre zu verräterisch gewesen, also zogen sie es vor, lautlos durch das Halbdunkel zu schleichen, Stufe für Stufe, bis der Stollen schließlich in einem länglichen Gewölbe endete.
Die Decke war hoch und mit weiteren Symbolen versehen, die ineinander griffen und ein kompliziertes Muster ergaben. Getragen wurde sie von Säulen, die direkt aus dem massiven Gestein geschnitten schienen. Halterungen waren daran befestigt, in denen brennende Fackeln steckten - der erste Hinweis darauf, dass Sarah und ihre Begleiter nicht allein waren.
Die Waffen schussbereit erhoben, betraten sie das Gewölbe und passierten die Säulen, deren Schatten über den Boden flackerten. Totenstille herrschte, nur das Knistern der Flammen war zu hören - und plötzlich ein spitzer Schrei von Friedrich Hingis.
Sarah fuhr herum, aber es war bereits zu spät, um Gegenwehr zu leisten! Die riesenhaften Gestalten, die hinter den Säulen hervortraten, waren zu zahlreich. Und auch sie waren bewaffnet. Einige von ihnen hielten kräftige Bogen in den Händen, auf denen lange Pfeile lagen, andere hatten unförmige jingals auf die Eindringlinge angelegt, die sie ganz allein bedienten. Ihnen allen war gemein, dass sie nur ein einzelnes Auge besaßen ...
»Zyklopen«, zischte Hingis und wich zurück. Der Schweizer und seine Gefährten drängten sich aneinander, Rücken an Rücken.
Sie waren eingekreist!
»Verdammt«, wetterte Abramowitsch und schickte einen russischen Fluch hinterher. Zumindest dieses eine Mal konnte Sarah ihm nur beipflichten. Der Feind, der ihnen so unverhofft aufgelauert hatte, war ihnen zahlenmäßig hoffnungslos überlegen. Wenn es zum Kampf kam, würde er vorüber sein, noch ehe er richtig begonnen hatte.
»Überrascht?«
Die Stimme, die diese Frage stellte, hätte Sarah unter Tausenden herausgekannt. Sie gehörte einer Frau - jener Frau, die sich als ihre Freundin ausgegeben, die Verständnis geheuchelt, sich ihr Vertrauen erschlichen und sie anschließend schmählich hintergangen hatte.
»Wo sind Sie?«, rief Sarah so laut, dass es von der hohen Decke widerhallte. Die Wut, die dabei in ihre Adern schoss, war nur schwer zu kontrollieren. »Zeigen Sie sich, Gräfin, oder fürchten Sie sich?«
»Warum sollte ich?«, drang es höhnisch zurück. »Sei versichert, Schwester, wenn sich eine von uns beiden fürchten sollte, dann du!«
Eine weitere Gestalt löste sich aus den unsteten Schatten, die zwei Köpfe kleiner war als die Zyklopen; ihre stolze Haltung und ihr aufrechter Gang ließen jedoch keinen Zweifel daran, dass sie die Anführerin war.
Ludmilla von Czerny sah genauso aus, wie Sarah sie in Erinnerung hatte. Rötliches Haar, blasser Teint, schmale Züge, aus denen ein kaltes, aber fesselndes Augenpaar blickte. Ihre schlanke Gestalt hatte die Gräfin in einen Mantel aus Nerz gehüllt, und ihre Schwäche für Goldschmuck schien sie sich auch an diesem unwirtlichen Ort bewahrt zu haben - eine Eitelkeit, die Sarah im höchsten Maße unpassend fand.
Ihre Erzfeindin wiederzusehen, die Arroganz in ihren hageren, bleichen Zügen, versetzte Sarahs Blut ohnehin schon in Wallung. Vollends an den Rand der Fassung brachte
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