Das Licht zwischen den Meeren: Roman (German Edition)
angefasst und auch das Glas nicht berührt. Sie hat das Bild vor sich, wie das Kind winkend und lachend auf Toms Arm sitzt und von der Galerie herunterschaut, während Isabel unten am Boden die Wäsche aufhängt. »Es war einmal ein Leuchtturm …« Wie viele von Lucys Geschichten fingen so an? »Und dann gab es einen Sturm. Und der Wind wehte und wehte. Der Leuchtturmwärter zündete die Lampe an, und Lucy half ihm dabei. Obwohl es so dunkel war, hatte der Leuchtturmwärter keine Angst, denn er hatte ja seine Zauberlampe.«
Ihr fällt Lucys trauriges Gesicht ein. Nun kann sie ihre Tochter behalten, dafür sorgen, dass sie sich glücklich und geborgen fühlt, und all das hier hinter sich lassen. Sie kann sie lieben und verwöhnen und zusehen, wie sie älter wird … In wenigen Jahren wird die Zahnfee die Milchzähne gegen Dreipennymünzen eintauschen. Lucy wird immer größer werden, und sie werden miteinander über die Welt sprechen und über …
Sie kann ihre Tochter behalten. Wenn sie … Isabel rollt sich auf dem Bett zusammen. »Ich will meine Tochter. Oh, Lucy. Ich ertrage es nicht.«
Hannahs Forderung. Ralphs eindringliche Bitte. Ihr eigener Meineid, mit dem sie Tom genauso verraten wird, wie er sie verraten hat. Immer weiter dreht sich das Gedankenkarussell der verschiedenen Möglichkeiten schneller und schneller im Kreis und wirbelt sie mit sich herum. Erst in die eine Richtung, dann in die andere. Sie hat zwar die Worte im Ohr, die gefallen sind, doch es fehlt Toms Stimme. Die des Mannes, der nun zwischen ihr und Lucy steht. Zwischen Lucy und ihrer Mutter.
Ihre Neugier gewinnt die Oberhand. Sie geht zur Schublade, holt den Brief heraus und öffnet langsam den Umschlag.
Geliebte Izzy,
hoffentlich bist Du wohlauf und lässt Dich nicht unterkriegen. Ich weiß, dass Deine Mum und Dein Dad gut für Dich sorgen werden. Sergeant Knuckey war so freundlich, mir zu erlauben, Dir zu schreiben. Allerdings wird er diesen Brief vor Dir lesen. Ich wünschte, wir könnten persönlich miteinander sprechen.
Ich bin nicht sicher, ob und wann ich überhaupt wieder Gelegenheit haben werde, mit Dir zu reden. Man glaubt immer, noch die Chance zu bekommen zu sagen, was gesagt werden muss, und die Dinge aufzuklären. Doch manchmal geht das eben nicht.
Ich war nicht länger in der Lage, so weiterzumachen wie bisher – ich hätte nicht mehr in den Spiegel schauen können. Aber es tut mir so unbeschreiblich leid, dass ich Dir Schmerz zufügen musste.
Uns allen ist eine bestimmte Zeit auf Erden zugeteilt, und wenn sie in meinem Fall eine solche Wendung genommen hat, war es die Sache dennoch wert. Eigentlich hatte ich geglaubt, diese Zeit schon längst aufgebraucht zu haben. Dir zu begegnen, als ich glaubte, mein Leben sei vorbei, und von Dir geliebt zu werden – und wenn ich noch hundert Jahre leben sollte, könnte ich mir nichts Besseres wünschen. Ich habe Dich geliebt, so gut ich konnte, Izzy, was nicht viel zu besagen hat. Du bist eine wundervolle Frau und hast einen besseren Mann verdient als mich.
Nun bist Du zornig und gekränkt und verstehst die Welt nicht mehr. Ich kenne dieses Gefühl, und falls Du beschließen solltest, mir den Laufpass zu geben, mache ich Dir keinen Vorwurf daraus.
Vielleicht habe ich ja den größten Fehler meines Lebens begangen. Jetzt kann ich nichts weiter tun, als Gott und auch Dich wegen des Leids, das ich verursacht habe, um Verzeihung zu bitten. Und Dir für jeden gemeinsamen Tag zu danken.
Ich werde Deine Entscheidung annehmen, ganz gleich, wie sie auch ausfallen mag, und dazu stehen.
Für immer Dein liebender Ehemann,
Tom
Isabel strich mit dem Finger über die Seite, als sei es kein Brief, sondern eine Fotografie. Sie fuhr die gleichmäßigen, kräftigen und anmutigen Schwünge nach, als könne sie seine Worte so besser verstehen. Sie malte sich aus, wie sich seine schlanken Finger um den Stift schlossen und dieser über die Seite glitt. Immer wieder berührte sie das Wort »Tom«, das ihr gleichzeitig fremd und vertraut erschien. Sie erinnerte sich an das Spiel, bei dem sie mit dem Finger Buchstaben auf seinen nackten Rücken gemalt und ihn hat raten lassen. Dann hat er dasselbe bei ihr getan. Doch sofort wurden die Gedanken von den Erinnerungen an Lucys Berührungen überlagert. Ihre Babyhaut. Wieder stellte sie sich Toms Hand vor, diesmal als er den Brief an Hannah schrieb. Wie ein Pendel schwangen ihre Gedanken hin und her. Zwischen Hass und Bedauern, zwischen dem Mann
Weitere Kostenlose Bücher