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Das Licht zwischen den Meeren: Roman (German Edition)

Das Licht zwischen den Meeren: Roman (German Edition)

Titel: Das Licht zwischen den Meeren: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M. L. Stedman
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den unterschiedlichen Menschen nehmen muss, die sich in ihm vereinen – dem verlassenen Achtjährigen, dem halb wahnsinnigen Soldaten am Rande der Hölle und dem Leuchtturmwärter, der es gewagt hat, sein Herz zu öffnen. All diese Leben sind in ihm ineinandergeschichtet wie in einer russischen Puppe.
    Der Wald singt ihm etwas vor: Der Regen klopft auf das Laub und tropft in Pfützen, die Kakadus lachen wie verrückt über einen Scherz, der sich dem menschlichen Verständnis entzieht. Tom hat das Gefühl, Teil eines zusammenhängenden Ganzen zu sein. Zu genügen. Ein weiterer Tag oder ein weiteres Jahrzehnt wird nichts daran ändern. Er ist umfangen von einer Natur, die letztlich darauf wartet, ihn sich einzuverleiben und seine Atome neu anzuordnen.
    Inzwischen regnet es heftiger, und in der Ferne grollt der Donner dem Blitz, weil der ihn zurückgelassen hat.

Kapitel 34
    Die Addicotts wohnten in einem Haus, das nur wenige Meter Salzwiese von einem Fußbad im Meer trennten. Ralph hielt die Holzteile gut in Schuss, während Hilda dem sandigen Boden einen kleinen Garten abgetrotzt hatte: Zinnien und Dahlien, so grellbunt wie Tanzmädchen, säumten den Weg zu der kleinen Voliere, in der, sehr zum Erstaunen der einheimischen Vögel, fröhlich zwitschernde Finken lebten.
    Als Ralph einen Tag, nachdem Lucy gefunden worden war, auf die Eingangstür zusteuerte, wehte ihm der Duft von Orangenmarmelade entgegen. Gerade nahm er im Flur die Mütze ab, als Hilda ihn, einen wie ein orangefarbener Lutscher glänzenden Kochlöffel in der Hand, im Flur abfing. Sie legte den Finger an die Lippen und zog ihn in die Küche. »Im Wohnzimmer!«, flüsterte sie. »Isabel Sherbourne! Sie wartet auf dich.«
    Ralph schüttelte verdattert den Kopf. »Wird jetzt die ganze Welt verrückt? Was will sie denn?«
    »Ich glaube, genau das ist das Problem. Das weiß sie selbst nicht so genau.«
    Das kleine, ordentliche Wohnzimmer des Kapitäns war weder mit Flaschenschiffen noch den Modellen von Zerstörern geschmückt, sondern mit Ikonen. Die Erzengel Michael und Raphael und verschiedene Heilige blickten den Besuchern aus der Ewigkeit entgegen und musterten sie mit strenger und ernster Miene.
    Das Wasserglas neben Isabel war fast leer. Sie starrte einen Engel an, der sich, Schwert und Schild in der Hand, über eine Schlange zu seinen Füßen beugte. Weil es draußen dicht bewölkt und deshalb dämmrig im Zimmer war, wirkten die Bilder wie goldene Flecken in der Dunkelheit.
    Da sie Ralphs Eintreten nicht bemerkte, beobachtete er sie eine Weile, ehe er sagte: »Das war meine erste. Vor etwa vierzig Jahren habe ich vor Sewastopol einen russischen Seemann aus der Brühe gefischt. Er hat sie mir zum Dank geschenkt.« Er sprach langsam und hielt immer wieder inne. »Die anderen habe ich in meiner Zeit bei der Handelsmarine gesammelt.« Er lachte auf. »Eigentlich bin ich nicht sehr religiös, und von Malerei habe ich auch keine Ahnung. Aber die Bilder haben etwas an sich, dass man glaubt, sie würden einem antworten. Hilda sagt, sie leisten ihr Gesellschaft, wenn ich auf See bin.« Er steckte die Hände in die Hosentaschen und wies mit dem Kopf auf das Bild, das Isabel gerade betrachtete. »Diesem Burschen habe ich eine Zeit lang ganz schön das Ohr abgekaut, das kann ich dir verraten. Das ist der Erzengel Michael. Er hat zwar ein Schwert in der Hand, aber den Schild halb erhoben. So, als könne er sich nicht ganz entscheiden.«
    Es wurde still im Raum. Der Wind schien noch drängender an den Fenstern zu rütteln und Isabels Aufmerksamkeit zu fordern. Wilde Wogen brachen sich bis zum Horizont, und der Himmel verdüsterte sich in Erwartung des nächsten Regenschauers. Isabel musste an Janus denken – an die weite Leere und an Tom. Im nächsten Moment brach sie in Tränen aus, und ihre Schluchzer waren wie Wellen, die sie endlich zurück an vertraute Gestade spülten.
    Ralph setzte sich neben sie und hielt ihre Hand. In der nächsten halben Stunde schwieg er und ließ sie sich ausweinen.
    »Lucy ist gestern Abend weggelaufen, und zwar meinetwegen, Ralph«, begann Isabel schließlich. »Sie hat mich gesucht. Sie hätte sterben können. Oh, Ralph, es ist alles so schrecklich. Mit Mum und Dad kann ich nicht darüber sprechen …«
    Noch immer sagte der alte Mann kein Wort, hielt nur Isabels Hand und betrachtete die abgekauten Fingernägel. Schließlich nickte er. »Sie lebt, und sie ist in Sicherheit.«
    »Mehr verlange ich doch gar nicht, Ralph. Von dem

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