Das Licht zwischen den Meeren: Roman (German Edition)
Wochen hier erscheinen, werden sie die Ersten sein.«
»Ja, aber wie mir letzte Nacht eingefallen ist, werden sie nicht ahnen, dass ich nicht die Mutter bin. Alle halten mich noch für schwanger. Sie werden nur verwundert sein, weil sie zu früh gekommen ist.«
Tom starrte sie mit offenem Mund an. »Aber … Izzy, hast du den Verstand verloren? Ist dir klar, was du da sagst?«
»Ich spreche von Nächstenliebe, mehr nicht. Von der Liebe zu einem Baby, Schatz.« Sie umfasste seine Hände fester. »Deshalb schlage ich vor, dass wir dieses Geschenk annehmen. Wie lange wünschen wir uns jetzt schon ein Baby, beten für ein Baby?«
Tom drehte sich zum Fenster um und schlug mit einem Auflachen die Hände vors Gesicht. Dann breitete er flehend die Arme aus. »Um Himmels willen, Isabel! Wenn ich den Burschen im Boot melde, wird ihn irgendwann jemand erkennen. Und in diesem Fall werden sie herausfinden, dass da auch ein Baby war. Vielleicht nicht sofort, aber auf lange Sicht …«
»Dann solltest du es eben nicht melden.«
» Nicht melden ?« Sein Tonfall war plötzlich streng.
Sie streichelte sein Haar. »Nicht melden, Liebling. Wir haben nichts verbrochen, sondern nur ein gestrandetes Baby bei uns aufgenommen. Dem armen Mann verhelfen wir zu einem ordentlichen Begräbnis. Und das Boot … Nun, das lassen wir einfach wieder treiben.«
»Izzy, Izzy! Du weißt, dass ich alles für dich tun würde, Liebling. Doch dieser Mann, wer immer er auch sein und was er getan haben mag, hat es verdient, dass man sich richtig seiner annimmt. Und zwar so, wie es das Gesetz vorsieht. Was, wenn die Mutter gar nicht tot ist und seine Frau die beiden voller Sorge erwartet?«
»Welche Frau würde ihr Baby aus den Augen lassen? Finde dich damit ab, Tom: Sie ist ganz bestimmt ertrunken.« Wieder umfasste sie seine Hände. »Mir ist klar, wie wichtig Vorschriften für dich sind, und dass wir damit theoretisch gegen sie verstoßen würden. Aber wozu gibt es diese Vorschriften? Um Menschenleben zu retten! Und mehr verlange ich nicht, Liebling: Ich möchte dieses Leben retten. Sie ist hier und braucht uns, und wir können ihr helfen. Bitte.«
»Izzy, ich kann nicht. Die Entscheidung liegt nicht bei mir. Verstehst du das nicht?«
Ihre Miene verfinsterte sich. »Wie kannst du so hartherzig sein? Du interessierst dich ja nur für deine Vorschriften, deine Schiffe und deinen verdammten Leuchtturm.«
Diese Vorwürfe hatte Tom schon öfter zu hören bekommen, wenn Isabel, verzweifelt vor Trauer nach ihren Fehlgeburten, ihre Wut an dem einzigen anwesenden Menschen ausgelassen hatte. Doch er hatte weiter seine Pflicht getan, sie getröstet, so gut er konnte, und seine eigene Trauer für sich behalten. Wieder einmal spürte er, dass sie gefährlich nah am Abgrund stand. Diesmal vielleicht sogar näher als je zuvor.
Kapitel 11
Auf einem mit Seetang gepolsterten Felsen saß eine neugierige Möwe und beobachtete Tom. Ihre undurchdringlichen Augen folgten ihm, als er den Mann, dem inzwischen der unverkennbare Geruch des Todes anhaftete, in das Segeltuch wickelte. Es war schwer zu sagen, wer er im Leben gewesen sein mochte. Sein Gesicht wirkte weder sehr alt noch sehr jung. Er war zierlich und blond und hatte eine kleine Narbe an der linken Wange. Tom fragte sich, wer ihn wohl vermisste und wer Grund hatte, ihn zu lieben oder zu hassen.
Die alten Gräber, in denen die Opfer des Schiffbruchs beerdigt waren, befanden sich in dem tiefer gelegenen Gebiet unweit des Strands. Als Tom sich anschickte, ein neues Loch auszuheben, übernahmen seine Muskeln ganz automatisch das Kommando und führten die vertrauten Bewegungen aus dem Gedächtnis aus, ein Ritual, von dem er geglaubt hatte, dass es für immer der Vergangenheit angehörte.
Als er sich zum ersten Mal zum täglichen Begräbnisdienst gemeldet hatte, hatte er sich beim Anblick der Leichen, die in einer Reihe dalagen und auf seine Schaufel warteten, übergeben müssen. Doch nach einer Weile war es eine Pflicht unter vielen geworden. Er hatte gehofft, einen mageren Kerl oder einen abzubekommen, dem es die Beine abgerissen hatte, weil man so weniger schwer tragen musste. Dann schaufelte man das Grab zu, markierte es, salutierte und ging. Es wurde Alltag: Man hoffte auf die, von denen am wenigsten übrig war. Tom erschauderte bei dem Gedanken, dass er das damals gar nicht sonderbar gefunden hatte.
Bei jedem Kontakt mit dem sandigen Boden seufzte die Schaufel leise auf. Nachdem Tom die Erde zu einem
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