Das Licht zwischen den Meeren: Roman (German Edition)
Fußabdrücke. Auf einer Leuchtturminsel kann man seine Lebensgeschichte nach Belieben selbst schreiben. Niemand wird einem widersprechen, nicht die Möwen, nicht die Prismen und auch nicht der Wind.
Und so treibt Isabel immer weiter hinein in eine von der Gnade Gottes geprägte Welt, in der Gebete erhört werden und die göttliche Vorsehung, zusammen mit der richtigen Strömung, Babys bringt. »Tom, wie konnten wir nur so viel Glück haben?«, fragt sie. Ehrfürchtig sieht sie zu, wie ihre wundervolle Tochter wächst und gedeiht. Sie erfreut sich an den Entdeckungen, die jeder Tag diesem kleinen Geschöpf eröffnet: sich umdrehen, zu krabbeln beginnen, die ersten Sprechversuche. Allmählich ziehen die Stürme mit dem Winter in einen anderen Teil der Welt; der Sommer kommt und mit ihm ein hellblauer Himmel und eine strahlende goldene Sonne.
»Los, rauf mit dir«, sagt Isabel, lacht und hebt Lucy auf ihre Hüfte, während sie zu dritt den Pfad hinunter zum funkelnden Strand gehen, um dort zu picknicken. Tom pflückt verschiedene Blätter – Segge und Essbare Mittagsblume –, Lucy schnuppert und kaut daran und verzieht wegen der neuen Sinneseindrücke das Gesicht. Er bindet winzige Sträußchen für sie oder zeigt ihr die schimmernden Schuppen einer Stachelmakrele oder einer blauen Makrele, die er an den Felsen auf der Seite der Insel gefangen hat, wo der Meeresboden in jäher Dunkelheit abfällt. In stillen Nächten weht die Luft Isabels beruhigende Stimme herüber, wenn sie Lucy im Kinderzimmer Geschichten von Snugglepot und Cuddlepie vorliest, während Tom in der Werkstatt Dinge repariert.
Ganz gleich, was richtig und was falsch ist, Lucy war nun einmal hier, und Isabel hätte keine bessere Mutter sein können. Jeden Abend betete sie zu Gott und dankte ihm für ihre Familie, ihre Gesundheit, ihr glückliches Leben und die Geschenke, mit denen er sie überschüttet hatte.
Tage brachen an, liefen aus wie die Wellen am Strand und hinterließen kaum eine Spur der Zeit, die verging, in dieser winzigen von Arbeiten, Schlafen, Essen und Hinschauen geprägten Welt. Isabel weinte ein wenig, als sie ein paar von Lucys Sachen aus ersten Babytagen wegpacken musste. »Es kommt mir vor wie gestern, dass sie noch so klein war«, meinte sie zu Tom, während sie alles ordentlich in Seidenpapier wickelte – einen Schnuller, die Rassel, die ersten Babykleidchen und ein winziges Paar Kinderstiefelchen. So wie jede andere Mutter überall auf der Welt.
Als ihre Regel ausblieb, wurde Isabel von Aufregung ergriffen. Nun, nachdem sie alle Hoffnung aufgegeben hatte, würde ihr Wunsch vielleicht doch noch in Erfüllung gehen. Sie beschloss, noch ein wenig zu warten und zu beten, bevor sie Tom etwas sagte. Allerdings stellte sie fest, dass sie immer wieder in Tagträume von einem Bruder oder einer Schwester für Lucy abschweifte. Ihr floss das Herz über. Doch dann setzten die Blutungen wieder ein, stärker, heftiger und schmerzhafter als zuvor und einem nicht vorhersehbaren Rhythmus folgend. Manchmal hatte sie Kopfschmerzen, und sie schwitzte nachts oft. Dann wieder vergingen Monate, in denen sie überhaupt nicht blutete. »Wenn wir Landurlaub haben, gehe ich zu Dr. Sumpton. Mach dir keine Sorgen«, meinte sie zu Tom, denn sie wollte sich nicht beklagen. »Ich bin stark wie ein Ochse, Liebling. Du brauchst dir wirklich nicht den Kopf zu zerbrechen.« Sie war verliebt – in ihren Mann und in ihr Baby –, und das genügte ihr.
Die Monate verstrichen, geprägt von den eigentümlichen Ritualen in einem Leuchtturm – dem Anzünden der Lampe, dem Hissen der Flagge, dem Filtern der Quecksilberlösung, um hineingeratenes Öl zu entfernen. Hinzu kamen die üblichen Formulare und die herrischen Briefe des Chefmechanikers mit dem Inhalt, dass Schäden an den Dampfröhren einzig und allein durch Nachlässigkeit und mangelnde Fachkenntnis des Leuchtturmwärters, nicht etwa durch Qualitätsmängel, hervorgerufen werden könnten. Das Protokollbuch wechselte mitten auf der Seite von 1926 zu 1927: Papierverschwendung gab es bei der Leuchtturmbehörde nicht – die Bücher waren teuer. Tom dachte über die amtliche Gleichgültigkeit im Umgang mit dem Jahreswechsel nach – so als ließe sich die Leuchtturmbehörde von etwas Banalem wie dem Verstreichen von Zeit nicht berühren. Und eigentlich hatte sie gar nicht so unrecht, denn der Blick von der Galerie war am Neujahrstag auch nicht anders als an Silvester.
Ab und zu ertappte Tom sich
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