Das Licht zwischen den Meeren: Roman (German Edition)
dabei, dass er wieder die Seite des 27. April 1926 aufschlug, bis das Buch sich irgendwann automatisch an dieser Stelle öffnete.
Isabel arbeitete hart. Der Gemüsegarten gedieh. Das Haus war blitzblank. Sie wusch und flickte Toms Sachen und kochte seine Lieblingsgerichte. Lucy wuchs. Die Lampe drehte sich. Die Zeit verging.
Kapitel 13
»Bald ist es ein Jahr her«, sagte Isabel. »Der 27. April ist ja gewissermaßen ihr Geburtstag.«
Tom war in der Werkstatt und schliff den Rost von einer verbogenen Türangel. Er legte die Feile weg. »Ich frage mich … wann sie wohl wirklich Geburtstag hat.«
»Der Tag ihrer Ankunft genügt mir.« Isabel küsste das Kind, das rittlings auf ihrer Hüfte saß und an einer Brotkruste knabberte.
Lucy streckte die Arme nach Tom aus.
»Tut mir leid, Kleines, aber ich habe schmutzige Hände. Bei Mama bist du jetzt am besten aufgehoben.«
»Ich fasse es kaum, wie sehr sie gewachsen ist. Inzwischen wiegt sie eine Tonne«, meinte Isabel, lachte und schob Lucy mit einem Ruck ein Stück höher. »Ich backe einen Geburtstagskuchen.« Das Kind schmiegte den Kopf an Isabels Brust und bestreute sie mit Brotkrümeln. »Der Zahn macht dir Ärger, was, Liebes? Deine Wangen sind so rot. Sollen wir Zahnpulver drauftun?« Sie wandte sich an Tom. »Bis später, Liebling. Ich gehe besser ins Haus. Die Suppe steht noch auf dem Herd.« Mit diesen Worten verschwand sie.
Grelles Licht fiel zum Fenster herein und auf Toms Werkbank. Er musste das Metall geradeklopfen, und jeder Schlag hallte wie ein Knall von den Wänden wider. Obwohl er wusste, dass er heftiger ausholte als nötig, konnte er nicht damit aufhören. Vor dem Gefühl, das das Gerede über Geburtstage und Jahrestage in ihm auslöste, gab es kein Entrinnen. Weiter drosch er mit dem Hammer kräftig auf das Stück Metall ein, bis es unter der Wucht zerbrach. Er nahm die beiden zerschmetterten Hälften und starrte wie betäubt darauf.
Tom blickte vom Lehnsessel auf. Seit der Geburtstagsfeier des Babys waren einige Wochen vergangen.
»Es spielt keine Rolle, was du ihr vorliest«, meinte Isabel. »Es ist einfach gut für sie, wenn sie verschiedene Wörter hört.« Sie setzte Lucy auf seinen Schoß und machte sich wieder ans Brotbacken.
»Dadadadad«, sagte das Kind.
»Bubububub«, erwiderte Tom. »Also, soll ich dir eine Geschichte vorlesen?« Die kleine Hand wurde ausgestreckt, griff jedoch nicht nach dem schweren Märchenbuch auf dem Tisch neben ihnen, sondern nach einer beigefarbenen Broschüre, die sie ihm hinhielt. Er lachte. »Das gefällt dir ganz sicher nicht, mein Häschen. Es sind keine Bilder drin.« Er nahm stattdessen das Märchenbuch, aber Lucy schwenkte weiter die Broschüre. »Dadadadad.«
»Wenn du unbedingt meinst, Kleines!« Wieder lachte er. Das Kind schlug eine Seite auf und zeigte auf die Wörter, wie es das bei Tom und Isabel beobachtet hatte. »Also gut«, begann Tom. » Dienstvorschriften für Leuchtfeuerwärter. Nummer neunundzwanzig: ›Leuchtfeuerwärtern ist es unter gar keinen Umständen gestattet, sich von ihren eigenen Interessen, privat oder anderweitig, in der Ausübung ihrer Pflichten beeinträchtigen zu lassen, da sie für die Sicherheit der Schifffahrt von größter Bedeutung sind; an dieser Stelle seien sie daran erinnert, dass ihre Weiterbeschäftigung oder Beförderung im Dienst von der strikten Befolgung ihrer Befehle und Regularien, ihrem Verhalten, ihrem Fleiß, ihrer Abstinenz sowie der Sauberkeit und Ordnung, sowohl was ihre eigene Person und die ihrer Familien als auch sämtliche Teile des Leuchtturms und der dazugehörigen Anlage angeht, abhängig ist.‹ Nummer dreißig: ›Fehlverhalten, Streitlust, Trunksucht oder Unmoral von Seiten des Leuchtfeuerwärters‹ «, er hielt inne, um Lucys Finger aus seiner Nase zu entfernen, »› führen zur Bestrafung oder Entlassung des Missetäters. Sollte ein Familienmitglied des Leuchtfeuerwärters sich eine der o. g. Verfehlungen zuschulden kommen lassen, kann die betreffende Person vom Leuchtturmposten entfernt werden. ‹« Er hielt erneut inne. Ein Schauder überlief ihn, und sein Herz schlug schneller. Die winzige Hand, die auf seinem Kinn landete, holte ihn in die Gegenwart zurück. Geistesabwesend führte er sie an die Lippen. Lucy grinste ihn an und gab ihm einen schmatzenden Kuss.
»Komm, lass uns lieber Dornröschen lesen«, schlug er vor und griff zum Märchenbuch, obwohl er Schwierigkeiten hatte, sich zu konzentrieren.
»Bitte sehr –
Weitere Kostenlose Bücher