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Das Licht zwischen den Meeren: Roman (German Edition)

Das Licht zwischen den Meeren: Roman (German Edition)

Titel: Das Licht zwischen den Meeren: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M. L. Stedman
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Schatten der Eukalyptusbäume auf die Buntglasfenster fielen und sich ihre Votivkerzen in kalte, harte Wachshaufen verwandelt hatten. Solange sie hier im Schatten verharrte, war es so, als gäbe es Frank und Grace noch. Wenn es sich nicht länger vermeiden ließ, ging sie nach Hause und öffnete den Briefkasten – allerdings erst, wenn sie sich stark genug fühlte, um die Enttäuschung zu verkraften, weil er wie immer leer war.
    Zwei Jahre lang hatte sie an jede Einrichtung geschrieben, die ihr einfiel – Krankenhäuser, Hafenmeistereien, Seefahrermissionen: an jeden, der vielleicht etwas gehört oder gesehen haben könnte. Doch sie hatte nur höfliche Antworten erhalten, man werde ihr Bescheid geben, falls man etwas Neues über ihren vermissten Mann und ihre Tochter erführe.
    An jenem Januarmorgen war es heiß, und die Elstern sangen ihr Lied, plätschernde Töne, die sich wie Farbkleckse über die Eukalyptusbäume unter dem blassblauen Himmel legten. Hannah ging wie in Trance den wenige Meter langen Plattenweg zwischen Veranda und Briefkasten entlang. Die Gardenien und Kranzschlingen, die ihr mit ihrem süßen, üppigen Duft hätten Trost spenden können, nahm sie schon lange nicht mehr zur Kenntnis. Der Briefkasten aus verrostetem Eisen knirschte, als sie ihn öffnete – er war genauso erschöpft und unwillig, sich zu bewegen, wie sie. Etwas Weißes befand sich darin. Hannah blinzelte. Ein Brief.
    Eine Schnecke hatte bereits ihre Spur darübergezogen, sodass das Papier rings um die angeknabberte Stelle funkelte wie ein Regenbogen. Eine Briefmarke fehlte. Die Handschrift war gleichmäßig und bestimmt.
    Hannah kehrte mit dem Brief zurück ins Haus und platzierte ihn so auf dem Esstisch, dass der Rand des Kuverts parallel zur Tischkante lag. Lange saß sie davor, ehe sie einen Brieföffner mit Perlmuttgriff nahm und den Umschlag vorsichtig aufschlitzte, um den Inhalt nicht zu beschädigen.
    Sie zog einen kleinen Briefbogen heraus, auf dem folgender Wortlaut stand:
    Sorgen Sie sich nicht um sie. Das Baby ist in guten Händen und wird geliebt und versorgt, und so wird es auch immer bleiben. Ihr Mann hat seinen Frieden in Gottes Hand gefunden. Ich hoffe, dass dieser Brief Sie tröstet.
    Beten Sie für mich.
    Es war dunkel im Haus, denn die schweren Brokatvorhänge waren zum Schutz gegen den grellen Sonnenschein zugezogen. Im wilden Wein an der rückwärtigen Veranda zirpten die Zikaden so schrill, dass es Hannah in den Ohren surrte.
    Sie betrachtete die Handschrift. Die Worte entstanden vor ihren Augen, doch sie konnte sie nicht ganz entwirren. Ihr Herz klopfte so heftig, dass es ihr den Atem raubte. Beinahe hatte sie damit gerechnet, dass der Brief verschwinden würde, wenn sie ihn öffnete. Ähnliche Sinnestäuschungen hatte sie schon öfter gehabt: Sie glaubte, sie hätte auf der Straße einen Blick auf Grace erhascht – auf ihr rosafarbenes Kleidchen vielleicht. Doch dann war es doch nur ein Päckchen in dieser Farbe oder der Rock einer Frau. Oder sie sah einen Mann, von dem sie hätte schwören können, dass es Frank war. Manchmal zupfte sie ihn sogar am Ärmel, nur um die verdatterte Miene eines Fremden vor sich zu haben, der nicht mehr Ähnlichkeit mit ihm hatte als Kreide mit Käse.
    »Gwen?«, rief sie, als sie endlich die Sprache wiedergefunden hatte. »Gwen, könntest du einmal kurz herkommen?«, rief sie ihre Schwester herbei, voll Angst, der Brief könnte sich in Luft auflösen, wenn sie auch nur einen Muskel regte. Vielleicht war es ja wieder nur Einbildung.
    Gwen hatte ihre Stickerei noch in der Hand. »Hast du mich gerufen, Hanny?«
    Anstelle einer Antwort wies Hannah nur mit einer furchtsamen Kopfbewegung auf den Brief, worauf ihre Schwester danach griff. »Wenigstens etwas«, dachte Hannah. »Er ist tatsächlich vorhanden.«
    Eine Stunde später verließen die beiden Schwestern das schlichte Holzhaus und machten sich auf den Weg nach Bermondsey, die steinerne Villa von Septimus Potts, die auf einem Hügel am Stadtrand stand.
    »Und er war heute erst im Briefkasten?«, erkundigte er sich.
    »Ja«, antwortete Hannah, noch immer perplex.
    »Wer würde so etwas tun, Dad?«, fragte Gwen.
    »Jemand, der weiß, dass Grace am Leben ist, natürlich!«, erwiderte Hannah. Den Blick, den ihr Vater und ihre Schwester wechselten, bemerkte sie nicht.
    »Hannah, mein Kind, es ist schon sehr lange her«, wandte Septimus ein.
    »Das ist mir klar!«
    »Er meint nur«, ergänzte Gwen, »es sei ein wenig seltsam,

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