Das Licht zwischen den Meeren: Roman (German Edition)
hinauf.
»Magenverstimmung«, erklärte sie ihrer Mutter mit schwacher Stimme, als sie sich wieder zu ihren Eltern gesellte, um möglichen Fragen zuvorzukommen. Sie streckte die Arme nach Lucy aus und drückte sie so fest an sich, das das Kind die Hände gegen Isabels Brust stemmte, um sich ein wenig Platz zu schaffen.
Beim anschließenden Essen im Palace Hotel saß Isabels Vater neben Violet am Tisch. Sie trug ein blaues Baumwollkleid mit weißem Spitzenkragen. Ihr Korsett zwickte, und von dem festen Dutt, zu dem sie ihr Haar zusammengesteckt hatte, bekam sie Kopfschmerzen. Dennoch war sie fest entschlossen, sich von nichts den Tag verderben zu lassen – die Taufe ihres ersten und, wie sie inzwischen von Isabel wusste, einzigen Enkelkinds.
»Tom ist so anders als sonst, findest du nicht, Vi? Normalerweise trinkt er ja kaum, aber heute scheint ihm der Whisky zu schmecken.« Bill zuckte die Achseln, als müsse er sich selbst überzeugen. »Wahrscheinlich zur Feier des Tages.«
»Ich glaube, er ist nur nervös. So ein wichtiges Ereignis. Isabel fühlt sich auch ein wenig schlecht. Sicher die Magenbeschwerden.«
Ralph stand mit Tom an der Bar. »Das kleine Mädchen war sehr wichtig für deine Frau. Sie ist wie ausgewechselt«, sagte Ralph.
Tom drehte das leere Glas zwischen den Händen hin und her. »Es hat ganz neue Seiten an ihr zutage gefördert, so viel steht fest.«
»Wenn ich mich daran erinnere, wie es war, als sie das Baby verloren hat …« Obwohl Tom fast unmerklich zusammenzuckte, sprach Ralph weiter. »Beim ersten Mal habe ich geglaubt, ein Gespenst vor mir zu haben, als ich nach Janus kam. Und beim zweiten Mal war es noch schlimmer.«
»Ja, es war eine schwere Zeit für sie.«
»Nun, der liebe Gott richtet schließlich doch alles, oder?« Ralph lächelte.
»Wirklich, Ralph? Er kann es nicht für alle richten. Zum Beispiel nicht gleichzeitig für die Deutschen und für uns …«
»So etwas sagt man nicht, mein Junge. Für dich ist doch alles gut ausgegangen!«
Tom lockerte Kragen und Krawatte – plötzlich erschien ihm der Raum stickig.
»Fehlt dir was, mein Junge?«, erkundigte sich Ralph.
»Schlechte Luft hier drin. Ich glaube, ich gehe mir mal die Beine vertreten.« Allerdings war es draußen nicht besser. Die Luft schien eine zähe Masse wie geschmolzenes Glas zu sein und erstickte ihn eher als ihm das Atmen zu erleichtern.
Wenn er nur allein mit Isabel sprechen könnte, und zwar ganz ruhig … dann würde alles gut werden. Es musste doch möglich sein, alles in Ordnung zu bringen. Tom richtete sich auf, atmete tief durch und kehrte langsam zurück ins Hotel.
»Sie schläft tief und fest«, verkündete Isabel und schloss die Tür des Zimmers, wo das Kind umgeben von Kissen lag, damit es nicht aus dem Bett fiel. »Sie war heute so brav und hat sich bei der Taufe trotz der vielen Leute wacker geschlagen und nur geweint, als sie nass gespritzt wurde.« Im Laufe des Tages hatte sich das Zittern in ihrer Stimme, das Hildas Enthüllung ausgelöst hatte, wieder gelegt.
»Ach, sie ist ein Engel«, erwiderte Violet und lächelte. »Ich weiß gar nicht, was wir tun sollen, wenn sie morgen wieder abreist.«
»Ich weiß. Aber ich verspreche, euch zu schreiben und euch alles von ihr zu erzählen«, antwortete Isabel. Sie seufzte auf. »Am besten gehen wir auch schlafen. Morgen in aller Herrgottsfrüh legt das Schiff ab. Kommst du, Tom?«
Tom nickte. »Gute Nacht, Violet, gute Nacht, Bill«, sagte er, überließ sie ihrem Puzzle und folgte Isabel ins Schlafzimmer.
Nun waren sie zum ersten Mal an diesem Tag allein miteinander. »Wann werden wir es ihnen sagen?«, fragte er, sobald sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte. Seine Miene war angespannt, und seine Schultern wirkten verkrampft.
»Gar nicht«, zischte Isabel.
»Was soll das heißen?«
»Wir müssen nachdenken, Tom. Wir brauchen Zeit. Morgen müssen wir weg. Wenn wir jetzt reden, obwohl du morgen Abend wieder deinen Dienst antreten musst, wird die Hölle los sein. Sobald wir zurück auf Janus sind, überlegen wir uns eine Lösung. Wir dürfen nichts überstürzen oder etwas tun, das wir später bereuen werden.«
»Isabel, in dieser Stadt gibt es eine Frau, die ihre Tochter für tot hält, obwohl sie noch lebt. Außerdem hat sie keine Ahnung, was aus ihrem Mann geworden ist. Der Himmel allein weiß, was sie durchgemacht hat. Je früher wir sie von ihren Leiden erlösen …«
»Das alles ist so ein Schock. Wir dürfen keine
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