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Das Licht zwischen den Meeren: Roman (German Edition)

Das Licht zwischen den Meeren: Roman (German Edition)

Titel: Das Licht zwischen den Meeren: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M. L. Stedman
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weißen Schaumkronen hinausblickte, näherte sich die Dunkelheit von allen Seiten. Die Linie zwischen Meer und Himmel war immer schwieriger auszumachen, da das Tageslicht von Sekunde zu Sekunde schwand. Das Barometer fiel. Es würde noch vor dem Morgen einen Sturm geben. Tom überprüfte den Messinggriff der Tür zur Galerie und sah zu, wie sich die Leuchte gleichmäßig und ungerührt weiterdrehte.
    An jenem Abend kümmerte sich Tom um den Leuchtturm, während Isabel an Lucys Bettchen saß und sie beim Einschlafen beobachtete. Den Tag zu überstehen, hatte sie all ihre Kraft gekostet, und ihre Gedanken wirbelten noch immer durcheinander wie die Sturmböen draußen. Sie sang, beinahe im Flüsterton, das Schlaflied, auf dem Lucy stets bestand: »Blow the wind southerly, southerly, southerly … « Ihre zitternde Stimme hatte Mühe, den Ton zu halten. » I stood by the lighthouse the last time we parted, till darkness came down o’er the deep rolling sea, and no longer I saw the bright bark of my lover …«
    Als Lucy endlich schlief, öffnete Isabel ihr die kleine Hand, um die rosafarbene Muschel zu entfernen, die das Kind fest umklammert hielt. Die Übelkeit, an der sie seit dem Vorfall am Grabstein litt, wurde stärker, und sie kämpfte dagegen an, indem sie die Spirale der Muschel mit dem Finger nachfuhr und Trost in der makellos glatten Oberfläche und der ausgewogenen Form suchte. Das Lebewesen, das sie geschaffen hatte, war längst tot und hatte nur dieses Kunstwerk zurückgelassen. Ihr schoss durch den Kopf, dass auch Hannahs Mann ein lebendes Kunstwerk zurückgelassen hatte: dieses kleine Mädchen.
    Lucy schob den Arm über den Kopf, und kurz verdüsterte sich ihre Miene, als sich ihre Finger um die nicht mehr vorhandene Muschel schlossen.
    »Ich werde nicht dulden, dass dir jemand wehtut, mein Schatz, und verspreche, dich immer zu beschützen«, flüsterte Isabel. Und dann tat sie etwas, das schon seit einigen Jahren nicht mehr vorgekommen war. Sie kniete sich hin und senkte den Kopf. »Gott, ich darf mich nicht anmaßen, deine Wege je verstehen zu wollen. Ich kann nur versuchen, mich der Aufgabe würdig zu erweisen, die du mir übertragen hast. Gib mir die Kraft, die ich dazu brauche.« Einen Moment lang wurde sie von einem heftigen Zweifel ergriffen, sodass sie am ganzen Leib zu zittern begann und sich erst durch regelmäßiges Durchatmen beruhigen konnte. »Hannah Potts – Hannah Roennfeldt …«, fuhr sie fort, um sich an den Gedanken zu gewöhnen, »steht ebenfalls unter deiner Obhut, das weiß ich genau. Schenk uns Frieden. Uns allen.« Sie lauschte dem Wind, der draußen wehte, und dem Meer und spürte, wie ihr der Abstand das Gefühl der Sicherheit zurückgab, das die letzten beiden Tage ihr genommen hatten. Isabel legte die Muschel neben Lucys Bett, wo diese sie beim Aufwachen sofort finden würde, und verließ, leise und von neuer Entschlossenheit beseelt, den Raum.
    Für Hannah Roennfeldt brachte der Montag im Januar, der auf die Taufe folgte, ein großes Ereignis.
    Als sie zum Briefkasten ging, rechnete sie eigentlich damit, ihn leer vorzufinden, denn sie hatte erst am Vortag hineingesehen, als Teil des Rituals, das sie entwickelt hatte, um seit dem schrecklichen Heldengedenktag vor knapp zwei Jahren die Zeit totzuschlagen. Zuerst stattete sie stets dem Polizeirevier einen Besuch ab, wo sie sich manchmal mit einem fragenden Blick begnügte, worauf der Constable Harry Garstone wortlos den Kopf schüttelte. Nachdem sie gegangen war, meinte sein Kollege Constable Lynch manchmal: »Die arme Frau. Stell dir mal vor, so zu enden …« Dann schüttelte auch er den Kopf und wandte sich wieder seinen Formularen zu.
    Anschließend suchte Hannah jeden Tag einen anderen Teil des Strands nach einem Hinweis ab – Treibholz oder vielleicht ein Stück Metall von einer Ruderpinne.
    Wenn sie damit fertig war, nahm sie einen Brief an ihren Mann und ihr Kind aus der Tasche. Manchmal legte sie dem Schreiben etwas bei – einen Zeitungsausschnitt, der berichtete, ein Zirkus werde bald in die Stadt kommen, oder einen Kinderreim, mit der Hand geschrieben und mit bunten Zeichnungen verziert. Den Brief warf sie ins Meer, in der Hoffnung, dass ihre geliebte Familie in einem der Ozeane die Tinte spüren würde, die das Wasser dem Umschlag entzog.
    Auf dem Rückweg machte sie in der Kirche Rast, wo sie schweigend in der letzten Reihe neben der Statue des heiligen Judas saß. Manchmal blieb sie, bis die langen

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