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Das Lied der Cheyenne

Das Lied der Cheyenne

Titel: Das Lied der Cheyenne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Jeier
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dachte. Er hatte damals vier Tage in den nahen Bergen gefastet und einen weiteren Tag auf einem bemalten Büffelschädel gestanden, um die Geister auf den Kampf gegen die Shar-ha einzustimmen. Sie hatten das Opfer angenommen und sich auf die Seite der Hügelleute geschlagen. Die Shar-ha waren blind in die Falle gelaufen, und die Hügelleute waren mit Skalpen beladen ins Dorf zurückgekehrt. Aiee, das waren gute Tage gewesen.
    »Bist du das, Onkel?«, fragte die Stimme eines Jungen. Er war unbemerkt aus der Dunkelheit getreten, das Gesicht mit nasser Erde beschmiert. Er blickte den Schamanen erstaunt an. »Was tust du hier, wenn alle anderen schlafen?«
    Sieht-hinter-die-Berge erkannte den jungen Gelber Wolf, der bei Büffelhöcker und seinen beiden Frauen lebte, seitdem seine Eltern bei einem Überfall der Ho-he ums Leben gekommen waren. In Friedenszeiten durfte er die Pferdeherde bewachen, die nachts auf den nahen Hügelhängen weidete.
    »Du hast scharfe Augen und gute Ohren«, lobte er den Jungen, »ich habe dich nicht gesehen.« Er legte ihm eine Hand auf die Schultern und fuhr lächelnd fort: »Alte Männer wie ich haben oft seltsame Träume. Wir sehen dunkle Gestalten und hören seltsame Stimmen, die uns am Schlafen hindern.«
    »Ich habe nichts gehört, Onkel«, sagte Gelber Wolf. Er war nur mit einem Lendenschurz bekleidet, und das Mondlicht glänzte auf seinem fettbeschmierten Körper. Der Respekt vor dem Schamanen verbot es ihm, ihn weiter auszufragen.
    Sieht-hinter-die-Berge spürte die Neugier des Jungen, verriet aber nichts von seinem Traum. »Pass gut auf die Pferde auf«, meinte er stattdessen, »sei wachsam und halte Ausschau nach unseren Feinden. Dann wirst du ein großer Krieger.«
    Gelber Wolf winkte ab. »Die Shar-ha lassen sich so schnell nicht mehr blicken. Sie sitzen bei ihren Weibern und Kindern und lecken ihre Wunden. Sie sind Feiglinge.«
    Sieht-hinter-die-Berge sah das Leuchten in den Augen des Jungen. Es verriet die Ungeduld des jungen Mannes, der darauf brannte, auf seinen ersten Kriegspfad zu gehen. Er dachte an seine eigene Jugend und musste lächeln. Er war genauso ungeduldig wie Gelber Wolf gewesen und früh in den Krieg gezogen. Erst dann war er in den Bergen seinem Schutzgeist begegnet und hatte seine wahre Berufung erfahren.
    »Wenn die Büffel kommen, werde ich zum ersten Mal gegen die Shar-ha reiten«, prahlte der Junge. »Ich werde Coups schlagen und viele Pferde rauben. Ich will ein großer Krieger werden wie Büffelhöcker.«
    »Dann geh zu den Pferden zurück und pass auf deinen Skalp auf«, antwortete der Schamane schmunzelnd. »Sonst stehlen dir die Shar-ha die Pferde unter dem Hintern weg, und dein Skalp baumelt an der Lanzenspitze eines dieser feigen Krieger.«
    Der Junge wurde blass und kehrte zur Herde zurück. Sieht-hinter-die-Berge beobachtete, wie er sich hinter einen Felsen kauerte und den Bogen schussbereit von der Schulter nahm. Der Schamane ging lächelnd weiter. Seine nackten Füße teilten das Präriegras, das ihm schon bis zu den Knöcheln reichte. Trotz seines hohen Alters ging er aufrecht. Er hatte seinen Wanderstock im Tipi gelassen und auch nicht daran gedacht, eines seiner Pferde zu besteigen. Das hatten die Geister nicht gewollt, sonst hätten sie es ihm ausdrücklich befohlen. Er wanderte wie ein Einsiedler über die Prärie, und er würde erst stehen bleiben, wenn ihn eine innere Stimme dazu aufforderte.
    Die Prärie umgab das Zeltdorf der Hügelleute wie ein erstarrter Ozean. Mit Büffelgras bewachsene Hügel erstreckten sich zu beiden Seiten des Flusses, der im Osten des Dorfes vorbeifloss. Vereinzelte Bäume rauschten im leichten Wind, und der schwere Duft von Salbei hing in der Luft. Im Nordosten erhoben sich schroffe Felsen aus dem Gras und bildeten ein Labyrinth aus verzweigten Schluchten und Tälern. In der Dunkelheit waren die Felsen nur als Schatten zu erkennen. Der Mond war hinter Wolken verschwunden.
    Nach einem zweistündigen Marsch erreichte Sieht-hinter-die-Berge die Felsen. Er stieg über einen schmalen Pfad zu den Sternen empor. Seine Füße brannten auf dem steinigen Boden, und seine Knochen schmerzten von der Anstrengung. Er bereute jetzt, seinen Wanderstock nicht mitgenommen zu haben, und hielt sich immer wieder an den Felsen fest, um auszuruhen. Der Pfad war steil und führte in vielen Windungen nach oben. Der alte Mann war diesen Weg noch nie gegangen, aber er wusste plötzlich, dass es jetzt nicht mehr weit war und die Antwort auf

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