Das Lied der Klagefrau
zeigt, dass sie in Latein gehalten ist. Sogar der Name des Verfassers wurde teilweise latinisiert. Sprache und Gedanken des gesamten Werks muten nach heutigem Verständnis oftmals zu einfach, zu unwissenschaftlich, ja, teilweise sogar abstrus an. Hier zunächst die Übersetzung des Titels:
PHYSIOLOGISCHE INAUGURALDISSERTATION.
ÜBER
DIE INNEREN VERÄNDERUNGEN
DES AUGES.
DIE
MIT ZUSTIMMUNG
DER BEKANNTEN MEDIZINISCHEN FAKULTÄT
UM
DIE HÖCHSTEN EHREN IN DER HEILKUNST
AUF RECHTE WEISE ZU ERLANGEN
AM 28. DEZEMBER 1753
ÖFFENTLICH VERTEIDIGT.
DER VERFASSER
HEINRICH WILHELM MATHIAS OLBERS
AUS BREMEN
GÖTTINGEN
Verlag JOHANN CHRISTIAN DIETERICH
DRUCKWERKSTATT
Seite 1
Über die inneren Veränderungen
des Auges.
§ 1.
Wenn auch schon seit frühesten Zeiten die wunderbare Struktur des Auges den Geist vieler Philosophen beschäftigt, so hat doch erst ein jüngeres Zeitalter eine wahrhafte Theorie des Sehens gefunden. Ich übergehe die Zweifel der Alten, ob durch einen Stoff, der aus dem Auge herausfließt, eher die Sicht von Gegenständen, die in das Auge eingeführt werden, erhellt wird oder Partikel vom Auge gegen die Gegenstände geschlagen werden, oder eher, wie es Plato und ebenso Galen beliebte, aus beiden Augen herausfließen, in der Mitte des Weges eine freundliche Verbindung eingehen und wieder ins Auge zurückgehen. Der Erste, soviel ich freilich weiß, der wahrhaft die Art des Sehens erklärte, war der hochbedeutende KEPLER, der die Tatsache der Strahlung in der Augenflüssigkeit durch die Lichtbrechung, durch die das Bild in der Netzhaut abgebildet wird, geometrisch nachwies. Dadurch jedoch entsteht diese bildliche Wahrnehmung des Sehens, und es ist uns verborgen, was vielleicht nach EUKLID und PTOLEMAEUS, die das System des Ausflusses aus dem Auge durchdachten, die wahre und letztliche Ursache des Sehens war. Denn es ist gewiss, dass der Gesichtssinn nicht in der Netzhaut, sondern allgemein im Gehirn entwickelt wurde …
Seite 14
ZWEITER ABSCHNITT .
VERSCHIEDENE HYPOTHESEN ÜBER DIE
VERÄNDERUNGEN DES AUGES .
§ 15.
Weil also feststeht, dass das Auge sich bewegt, bleibt also ein großer Knoten in ihm übrig, je nachdem, wie diese Änderung beschaffen ist, und wie dies geschieht, wurde ansehnlich gezeigt. Dass diese Aufgabe allerdings schwierig ist, geht bereits daraus hervor, dass es fast unzählige von hochberühmten Männern ausgedachte und vorgeschlagene dieser Veränderungen gibt. Die vorzüglichsten unter ihnen, soweit sie in einer Reihe aufgezählt werden und auf Hauptinhalte zurückgeführt werden können, haben bereits verschiedene Weisen erwogen, auf die das Auge sich an verschiedene Entfernungen anpassen kann. Diese aber sind folgende:
Die Linse verändert die Gestalt.
Die Linse wird vorwärts und rückwärts geführt.
Die ganze Zwiebel hat eine veränderliche Länge.
Die Hornhaut verändert ihre Konvexität.
Die Augenflüssigkeiten werden zum Nahsehen dichter.
Oder mehrere dieser Veränderungen setzen sich gleichzeitig durch.
Ob und welche Veränderung im Auge stattfindet, ist zum Teil aus ordnungsgemäß durchzuführenden Versuchen, zum Teil aus dem Körperbau, zum Teil aus den Grundsätzen der Optik zu entscheiden.
§ 16.
Wer auch immer seinem Sehvermögen ein wenig Aufmerksamkeit widmet, erfährt wahrscheinlich mit mir, dass das Auge sich eigentümlicherweise nicht an Entfernteres anpasst, sondern eher Ruhendes ist, was das Auge verändert, durch die Kräfte im höchsten …
Seite 40
§ 55.
Wenn man das Auge mit dem Finger drückt, ist gewiss, dass die Sicht gestört wird. Aber man darf die Betätigung der Muskeln nicht mit dem Druck durch einen rohen Finger vergleichen. Diese nämlich betätigen sich von allen Seiten mit sanfter und gleichmäßiger Kraft, und damit der Druck, der auf die glänzende Flüssigkeit entsteht, auf allen Seiten gleichmäßig verteilt wird, damit die Lage der Netzhautfasern von daher keineswegs gestört werden kann.
§ 56.
Aus welchem Grunde jedoch in einer solchen Lage das Auge von geraden Muskeln verändert werden kann, sehe ich freilich nicht. Denn nichts erfordert, dass dieser Muskel, den die Bewegung des Auges betrifft, stärker sei, die übrigen weniger zusammengezogen werden, und auch zur Seite gebogen sieht das Auge in jeder Entfernung vom Gegenstand deutlich.
§ 57.
Dass für Vögel und Fische dieselbe Notwendigkeit besteht, jede Entfernung deutlich zu sehen, wie für den Menschen, wird niemand
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