Das Lied der Luege
mochte, dass sich dies eines Tages ändern könnte. Lavinia liebte schöne Kleider und Schmuck. Sie war eine gute und elegante Gastgeberin und bewegte sich geschickt und charmant in den höchsten Adelskreisen, in denen Geld keine Rolle spielte. Nie mehr wollte sie auf die Heerschar von Dienern verzichten, die ihr bei jedem Klingeln bereitwillig ihre Wünsche erfüllten. Im Haus ihrer Eltern hatte sie jahrelang jeden Penny dreimal umdrehen, ihre Kleider unauffällig flicken und auf Fleisch verzichten müssen, nur damit niemand merkte, wie es finanziell um die Familie stand. Der äußere Schein musste gewahrt bleiben, denn nur so war es möglich, für Lavinia einen vermögenden Ehemann zu bekommen. Wie oft hatte sie in den Wintermonaten gefroren, weil kein Geld für Holz und Kohle vorhanden war, aber das Hausmädchen und die Köchin mussten bezahlt werden. Für Lavinias Mutter war es undenkbar gewesen, im Haushalt selbst Hand anzulegen – was hätten da wohl ihre Nachbarn und Bekannten gedacht, wenn sie kein Personal gehabt hätten?
Nein, in Armut wollte sie nie wieder leben! Lavinia schüttelte so heftig den Kopf, dass sich einzelne Haarsträhnen aus ihrem Dutt lösten. Es würde, es musste eine andere Lösung geben, damit sie Edward ein Kind schenken und somit ihren Status in der Gesellschaft wahren konnte.
»Na endlich! Spinnst du eigentlich, erst jetzt nach Hause zu kommen?« Wie eine Furie fuhr die ältere Frau auf Susan los, als diese den dunklen, muffigen Flur des vierstöckigen Mietshauses betrat. »Seit Stunden schreit sich dein Sohn die Seele aus dem Leib.«
»Es tut mir leid.« Zerknirscht blickte Susan ihre Nachbarin Mary an. »Lilo wollte auf ihn aufpassen …«
»Das hat sie auch«, unterbrach Mary scharf. »Aber das Mädchen hat Arbeit, sie musste pünktlich los. Ich habe Jimmys Weinen bis hier unten gehört und ihn zu mir genommen. Du bist eine Rabenmutter, Susan Hexton! Treibst dich herum, während dein eigenes Kind hungert.« Mit zusammengekniffenen Augen kam sie näher und musterte Susan von oben bis unten. »Hast ein neues Kleid, hä? Wohl von einem deiner Liebhaber, mit dem du dich im Bett gewälzt hast.«
»Ich habe weder einen Liebhaber, noch habe ich mich herumgetrieben.« Trotzig verschränkte Susan die Arme vor der Brust und funkelte Mary wütend an. Am liebsten hätte sie der Frau, die grundsätzlich allen Bewohnern des Hauses hinterherspionierte und sich als Moralapostel aufspielte, einmal richtig die Meinung gesagt. Mary Scott war aber nicht nur die Älteste im Haus, sondern sie fungierte als eine Art Hauswart und stand mit dem Vermieter auf gutem Fuß. Es sich mit Mary zu verderben, hieße, sich gleich eine neue Unterkunft suchen zu müssen.
»Ich war auf dem Weg von der Arbeit nach Hause, als ich einen kleinen Unfall hatte.« Susan hasste es, sich Mary gegenüber rechtfertigen zu müssen, sie hatte jedoch keine andere Wahl. »Dabei wurde ich nass, und die Dame, die ebenfalls in den Unfall verwickelt war, nahm mich mit zu sich nach Hause und gab mir dieses Kleid.«
»Aha.« Susan sah Mary Scott an, dass sie ihr kein Wort glaubte. »Nun denn, jetzt bist du ja hier. Kannst deinen Sohn mit nach oben nehmen, ich habe ihm etwas Haferbrei gegeben, und seit einer halben Stunde schläft er.«
Mary trat zur Seite, und Susan ging in Marys Wohnung. Obwohl sie allein lebte, bewohnte sie zwei Zimmer, die zudem weder feucht noch schimmlig waren. Welch ein Luxus, dachte Susan und seufzte verhalten. Sie wusste, dass Mary, die alles andere als attraktiv war, regelmäßig das Bett ihres Vermieters teilte. Bei dem Gedanken daran lief Susan ein eiskalter Schauer über den Rücken, und sie verdrängte die Erinnerung an den feisten Hausbesitzer und sein schmieriges Lächeln. Schnell hob sie ihren Sohn von dem durchgesessenen Sofa und drückte ihr Gesicht in sein weiches Haar. Jimmy erwachte nicht, während Susan zur Treppe ging. Sie war schon auf dem ersten Absatz, als Mary ihr nachrief: »Übrigens, da war heute Nachmittag so ein Kerl da, der dich sprechen wollte. Übler Bursche, sage ich, ich hoffe nicht, dass der dein neuer Freund ist. In diesem Haus wird kein Gesindel geduldet.«
Susan runzelte die Stirn.
»Ich habe keine Ahnung, wer das sein könnte, Mary. Hat er gesagt, wie er heißt?«
»Nee, aber er war ziemlich sauer, als ich sagte, dass du erst heute Abend zu Hause bist. Er wollte dann noch mal vorbeikommen.«
Mary Scotts Blick sah man an, dass sie gespannt darauf wartete, Susan
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