Das Lied der Luege
füreinander hatte sich nichts geändert. Im Gegenteil, Lavinia spürte, wie diese von Mal zu Mal, wenn sie sich trafen, intensiver wurden. Sebastian erging es ebenso, und die Wochen, die Lavinia gezwungenermaßen an der Seite ihres Mannes in London verbringen musste, erschienen beiden wie eine Ewigkeit.
Nachdem sie sich ausgiebig geliebt hatten, angelte Sebastian nach dem Päckchen Zigaretten auf seinem Nachttisch und zündete eine an. Abwechselnd rauchten sie. Durch das geöffnete Fenster drang der Duft der Kletterrosen, die die Rückseite des Hauses überwucherten, und irgendwo sang eine Amsel. Es war ein Augenblick absoluten Glücks, der Lavinia für einen Moment Susan Hexton und die unerfreuliche Begegnung am Nachmittag vergessen ließ.
»Warum verlässt du ihn nicht?« Sebastian unterbrach die friedvolle Stille, und Lavinia seufzte. Er sprach nie Edwards Namen aus, nannte ihn immer nur
ihn
oder
deinen Mann
.
»Du weißt, dass das nicht geht«, antwortete Lavinia und drückte den Rest der Zigarette im Aschenbecher aus. Du meine Güte, wenn Edward oder Zenobia sehen würden, dass sie rauchte – das gäbe vielleicht eine Auseinandersetzung.
Sebastian zog sie an sich heran.
»Ich weiß, dass ich dir nicht das Leben bieten kann, das du gewohnt bist.« Er machte eine lapidare Handbewegung und deutete auf das Zimmer. »Ladbrooke ist in keiner Weise mit Sumerhays zu vergleichen, und die Nachbarn würden sich ihre Mäuler zerreißen, aber …«
»Das ist es nicht«, unterbrach Lavinia, »und das weißt du.« Lavinia machte sich aus seiner Umarmung frei und richtete sich so weit auf, dass sie Sebastian in die Augen sehen konnte. Er hatte unheimlich schöne, dunkelbraune Augen, in denen Wärme und Zuneigung standen. »Wenn ich Edward verlasse, dann verliere ich mein Kind.«
»So hartherzig wird er nicht sein. Nach deinen Erzählungen kümmert sich dein Mann kaum um eure Tochter, ich bin sicher, er wird dir keine Steine in den Weg legen. Du weißt, dass ich Anabell liebe wie ein eigenes Kind.«
»Woher willst du das wissen?« Lavinia lachte mit einem bitteren Unterton. »Du kennst Anabell ja gar nicht.«
»Nun, ich habe sie ein- oder zweimal gesehen, und allein die Tatsache, dass sie deine Tochter ist, sagt mir, dass sie ein äußerst liebenswertes Mädchen sein muss.«
Meine Tochter … Die Worte klangen in Lavinia nach. Anabell war ebenso wenig ihre Tochter, wie sie jemals eine Trennung von Edward auch nur in Betracht ziehen konnte.
»Wir könnten von hier fortgehen«, fuhr Sebastian fort. »Irgendwohin in den Norden, vielleicht auch nach Schottland. Ich bin zwar nicht reich, verfüge jedoch über ein kleines Vermögen, das es uns ermöglichen würde, anderswo ganz von vorn anzufangen. Irgendwo, wo uns niemand kennt und wo es keinen bösen Klatsch über dich geben wird.«
Lavinia zündete sich eine neue Zigarette an. Während sie tief den Rauch inhalierte, dachte sie daran, welch seltsame Wege das Schicksal doch ging. Einst hatte sie Edward geheiratet, weil sie nicht mehr arm sein, sondern in finanzieller Sicherheit und auf einem hohen gesellschaftlichen Niveau leben wollte. Als sie dies dann durch ihre Kinderlosigkeit bedroht sah, hatte sie sich auf den Handel mit Susan eingelassen, um ihre Stellung und den Luxus, an den sie gewöhnt war, zu sichern. Sie hatte Anabell bekommen und lebte weiter ihr Leben ohne materielle Sorgen. Heute jedoch bedeuteten ihr Geld, Schmuck und schöne Kleider nichts mehr. Ja, selbst der Skandal, den eine Scheidung von Edward unweigerlich nach sich ziehen würde, wäre ihr gleichgültig, wenn sie offen und frei mit Sebastian zusammen sein konnte. Auf Anabell konnte und wollte sie jedoch niemals verzichten. Seit ihrer Geburt hatte Lavinias Leben einen Sinn erhalten, und sie hatte längst vergessen, dass sie das Kind nicht selbst zur Welt gebracht hatte. Vergessen, bis zum gestrigen Abend, als sie in aller Deutlichkeit an die größte Lüge ihres Lebens erinnert worden war. Das Gesetz war auf Edwards Seite. Sollte sie ihn verlassen, würde man sie des Ehebruchs bezichtigen, und sie würde ihr Kind niemals wiedersehen. Mehr als sie selbst würde Anabell darunter leiden, die mit zärtlicher Liebe an ihr hing, während sie Edward und auch Zenobia gegenüber immer etwas ängstlich war.
»Wir könnten Anabell entführen«, sagte Sebastian in ihre Gedanken. »Wir könnten nach Frankreich oder auch nach Italien gehen.«
»Und gejagte Verbrecher sein, die sich nirgendwo auf dieser
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