Das Lied der Luege
Befürchtungen hatten sich bewahrheitet. Gestern Abend hatte sie zuerst gedacht, sich verhört zu haben, als Anabell unbedarft geplappert hatte: »Die Tante hat Clara auch lieb«, und dabei ihre Puppe an die Brust drückte.
»Von welcher Tante sprichst du?«, hatte Lavinia gefragt, überzeugt, Anabells Fantasie schlüge mal wieder hohe Wellen. Das Mädchen hatte jedoch genickt und ernsthaft entgegnet: »Na, die Tante, Mami, die immer in der Bucht ist und mit mir spielt. Oft essen wir dann auch Eis. Sie ist eine ganz liebe Tante.«
Lavinia war äußerlich ruhig geblieben und hatte sich gesagt: Das hat nichts zu bedeuten. Anabell ist ein entzückendes Mädchen, das die Aufmerksamkeit von Fremden auf sich zieht. Tief in ihrem Inneren jedoch keimte die Saat der Angst auf, dass ihre Befürchtung, die sie seit Jahren hegte, nun Wirklichkeit geworden war. Lavinia ließ sich ihre Beunruhigung nicht anmerken. Wie jeden Abend brachte sie Anabell zu Bett, las ihr noch eine Gutenachtgeschichte vor, die heute jedoch kürzer als gewöhnlich ausfiel, dann ging sie in die Bibliothek, schenkte sich ein Glas Brandy ein und läutete nach dem Kindermädchen.
Da Lavinia Anabell stets selbst zu Bett brachte, wenn sie in Sumerhays weilte, war Nancy Lewarne gerade dabei gewesen, sich zum Ausgehen fertig zu machen. Es war Samstag. In Looe fand an diesem Wochenende ein Jahrmarkt statt, und heute Abend spielte eine Kapelle zum Tanz auf. Nancy hatte ein Auge auf den jungen Freddie, einen der Stallburschen, geworfen, der sie gefragt hatte, ob sie ihn zu dem Tanzvergnügen begleiten wollte. Da Nancy sich keiner Schuld bewusst war, betrat sie gutgelaunt und in ihrem schönsten Sommerkleid die Bibliothek, in der Erwartung, Lady Lavinia würde ihr lediglich Anweisungen für den nächsten Tag geben. Hoffentlich beeilte sie sich damit, denn Freddie wartete bereits am Tor. Bevor Nancy jedoch ein Wort sagen konnte, fuhr Lavinia sie an: »Packen Sie auf der Stelle Ihre Sachen. Sie verlassen noch heute mein Haus, und ich möchte Sie niemals wieder in der Nähe von Sumerhays sehen.«
»Mylady … was … ich verstehe nicht …«, stammelte Nancy verwirrt, der kalte Blick aus Lavinias Augen ließ sie jedoch verstummen.
»Ihren Lohn für den Rest des Monats bekommen Sie von Mrs. Windle ausbezahlt, auf ein Zeugnis müssen Sie allerdings verzichten. Oder soll ich in ein solches etwa schreiben, dass Sie unzuverlässig sind und mein in Sie gesetztes Vertrauen schamlos missbraucht haben?«
Haltsuchend griff Nancy nach einer Stuhllehne. Am liebsten hätte sie sich gesetzt, wusste jedoch, dass eine Angestellte dies niemals ohne ausdrückliche Aufforderung der Herrschaft tun durfte. Sie rang nach Atem.
»Mylady, ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen, das müssen Sie mir glauben«, flehte Nancy, denn sie wusste nicht, wohin sie gehen sollte, wenn sie ihre Stellung verlor. »Was werfen Sie mir vor?«
»Wollen Sie etwa leugnen, sich seit Tagen hinter meinem Rücken heimlich mit einer Fremden zu treffen und dieser Anabell anzuvertrauen?«
Nancy begann zu verstehen. Sie hatte gewusst, dass Lady Lavinia nicht begeistert darüber sein würde, dass Anabell Kontakt zu Personen aufnahm, die Mylady nicht selbst für ihre Tochter auswählte. Niemals jedoch hätte sie mit einer solch heftigen Reaktion gerechnet.
»Verzeihen Sie, Mylady, Ihre Tochter und ich trafen die Dame rein zufällig bei einem Spaziergang. Anabell warf ihren Ball gegen sie und beschmutzte ihr Kleid. Die Dame war daraufhin nicht verärgert, sondern sehr nett. So kamen wir ins Gespräch.« Nancy beschloss, sich zu verteidigen, und sie straffte die Schultern. »Anabell und die Fremde waren niemals allein, ich war immer in ihrer Nähe. Wir tranken lediglich Tee und machten kleine Spaziergänge in der Talland Bay. Es handelt sich bei der Frau um eine wirkliche Dame, das müssen Sie mir glauben. Sie ist Witwe und verbringt ihren Urlaub in der Gegend.«
»Pah! Dame!« Für einen Moment fiel die Maske der Wut von Lavinias Gesicht, und Nancy konnte ein ängstliches, beinahe schon panisches Flackern in deren Augen erkennen. »Sie haben doch gar keine Ahnung, wer der besseren Gesellschaft angehört und wer nicht. Um eine Dame zu sein, gehört mehr dazu als feine Kleidung und ein geschliffener Tonfall. Ich sehe keine Veranlassung, mit einem Dienstboten darüber zu diskutieren. Sie hatten Anweisung, ein Auge auf Anabell zu haben. Warum sind Sie nicht gleich nach dem ersten Treffen zu mir gekommen
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