Das Lied der Luege
jedoch nicht.«
»Danke, bring bitte einen neuen Krug mit kaltem Wasser. Dann leg dich ein wenig hin, ich werde jetzt bei Anabell bleiben.«
Zögernd trat Susan ans Bett und erschrak, als sie Anabells Gesichtchen sah, das so weiß war, dass es kaum vom Kopfkissen zu unterscheiden war. Unter ihren Augen lagen dunkle Schatten, und ihre kleine Brust hob und senkte sich in unregelmäßigen Abständen. Susan kniete sich auf den Vorleger und griff nach Anabells Hand. Sie war brennend heiß und schweißnass. Rosalind feuchtete ein Tuch an und betupfte dem Mädchen die Stirn. Durch die Berührung wachte Anabell auf. Ihre Lider flatterten, und unruhig warf sie sich hin und her.
»Kann man denn gar nichts tun?«, fragte Susan leise.
»Wir können nur abwarten und … beten.« Rosalinds Hände zitterten, während sie das Tuch auswrang. »Wenn das Fieber nicht sinkt und die Lungenentzündung stärker wird, dann …«
Sie brauchte nicht weiterzusprechen, Susan verstand.
»Du sagtest, du hast Lady Lavinia informiert. Hast du von deinem Bruder keine Nachricht erhalten? Ein Telegramm? Heute Morgen?«
Rosalind schüttelte den Kopf. »Gestern Mittag rief ich in London an, aber weder Lavinia noch Edward waren zu sprechen. Erst gestern Abend rief mein Bruder mich zurück und meinte, sie würden, so schnell es geht, nach Sumerhays aufbrechen. Als es vorhin klopfte, dachte ich, Lavinia und Edward wären gekommen, allerdings reagierte er recht kurz angebunden am Telefon, ganz so, als kümmere es ihn nicht, dass seine Tochter krank ist. Ausgerechnet jetzt muss Lavinia in London sein … ausgerechnet jetzt … wenn Anabell stirbt und ihre Mutter ist nicht da … ich würde mir das niemals verzeihen.«
Susan umarmte Rosalind und drückte sie fest.
»So darfst du nicht sprechen. Sie wird nicht sterben! Hörst du, Anabell ist kräftig, sie wird wieder gesund werden.« Susan klang hoffnungsvoller, als ihr zumute war. Gerade hatte sie ihr Kind wiederbekommen – da konnte Gott es nicht zulassen, dass ihr Anabell wieder genommen wurde.
»Mama …« Ganz leise war Anabells Stimmchen zu vernehmen, und Susan beugte sich sofort näher zu dem Kind. »Mama … bist du da? Mama …«
Sanft legte Susan eine Hand auf die fieberheiße Stirn.
»Mama kommt bald, mein Kind«, flüsterte sie mit tränenerstickter Stimme. »Mama wird bald hier sein.«
Die folgenden Stunden vergingen in quälender Langsamkeit, und weder Susan noch Rosalind wichen von Anabells Seite. Gegen Mittag kam Doktor van Roosen und untersuchte Anabell. Konzentriert hörte er ihre kleine Brust ab, aus der der Atem rasselnd entwich.
»Die Entzündung ist seit gestern nicht schlimmer geworden«, sagte er, als er das Stethoskop in seine Tasche steckte. »Es besteht aber noch kein Grund zur Hoffnung. Am meisten Sorge bereitet mir das Fieber. Wenn es in der folgenden Nacht nicht sinkt, dann …«
Beide Frauen wussten, was er sagen wollte. Das Dienstmädchen brachte ständig frisches, kaltes Wasser, um Anabells heißen Körper zu kühlen. Immer wieder kam das Kind zu sich, seine Augen irrten suchend durch den Raum. Einmal schien sie fast bei sich zu sein, denn sie erkannte Susan. Der Anflug eines Lächelns zog über ihre Lippen.
»Du bist nett. Wo ist Mama?«
»Bald ist deine Mama da«, sagte Rosalind leise. »Und dein Vater auch. Du musst wieder gesund werden, kleine Anabell, damit du in die Schweiz fahren kannst. Du hast dich doch so sehr auf die Schule gefreut, und auf die vielen neuen Freundinnen, die du da finden wirst.«
»Schule … ja … und Schnee … in der Schweiz gibt es Schnee … Aber Mama kommt nicht mit.«
Anabell fiel wieder in einen unruhigen Schlaf. Susan brauchte ihre ganze Überzeugungskraft, damit Rosalind sich etwas ausruhte.
»Du musst ein paar Stunden schlafen, denn du hast seit drei Nächten kein Auge zugetan. Ich bleibe bei Anabell und ruf dich sofort, wenn sich etwas ändert.«
Schweren Herzens verließ Rosalind das Zimmer. Susan legte ihren Kopf auf Anabells Brust. Zwischen ihren schweren Atemstößen hörte sie das kleine Herz schlagen, spürte die Wärme ihres Körpers und begann haltlos zu weinen. Stumm betete sie, obwohl sie nicht wusste, ob Gott sie hörte. Ob er sie überhaupt hören wollte nach alledem, was sie getan hatte.
Der Nachmittag dämmerte bereits, als Susan Geräusche im Haus wahrnahm. Türen wurden geschlagen, schwere Schritte eilten die Treppe herauf, und die Tür zum Krankenzimmer wurde aufgerissen. Auf der
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