Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Lied der Luege

Das Lied der Luege

Titel: Das Lied der Luege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ricarda Martin
Vom Netzwerk:
Mietdroschke zu nehmen, entschloss sich Susan, zu Fuß zu gehen. Sie brauchte die frische Luft, und als sie kräftig ausschritt, wurde ihr Kopf immer klarer. Nächste Woche mussten sie abreisen, um die Geschichte glaubhaft zu machen, und für Jimmy würde es ein herber Schlag werden, seine Freunde verlassen zu müssen. Der Junge war jedoch alt genug, um zu verstehen, dass ihr künftiges Leben nicht mehr in England sein konnte. Daniel und sie hatten vereinbart, dass sie zuerst nach Liverpool gehen und von dort mit dem nächsten Schiff nach Amerika fahren würden. Susan graute es zwar vor einer erneuten Fahrt über den Atlantik, sie sagte sich jedoch, dass ein so schreckliches Schiffsunglück kein zweites Mal geschehen würde. Da auch der Krieg vorbei war, würde es bestimmt eine ruhige und sichere Überfahrt werden.
    Ihr kleines Cottage wollte sie in die Hände von Jana Godrevy geben, die dafür einen Mieter suchen sollte. Verkaufen wollte Susan das Haus vorerst nicht, denn so war es, als bliebe ein Stück von ihr in England, wenn sie auf der anderen Seite der Welt ein neues Leben begann.
     
    Sie musste mehrmals den Klopfer in Form eines Löwenkopfes betätigen, bis sich hinter der Tür endlich etwas rührte. Natürlich – Mrs. Windle, die früher geöffnet hatte, war nicht mehr auf Sumerhays, und sonst gab es nicht viel Personal. Endlich öffnete sich die Tür einen Spalt. Susan erschrak, als sie Rosalind sah. Die Freundin sah sehr schlecht aus, so, als hätte sie nächtelang nicht geschlafen. Ihr Haar war unordentlich zu einem Knoten aufgesteckt, und ihr Kleid wirkte, als hätte sie es seit Tagen nicht mehr gewechselt.
    »Rosalind, was ist geschehen?«, frage Susan besorgt.
    »Ach, du bist es …« Rosalind öffnete die Tür, damit Susan eintreten konnte, dann warf sie sich schluchzend in ihre Arme. »Ich dachte, es wären Lavinia … und Edward … sie müssen mein Telegramm doch erhalten haben …«
    Eine furchtbare Ahnung breitete sich in Susan aus und erschwerte ihr das Atmen.
    »Ist etwas mit … Anabell?« Sie fürchtete die Antwort, die zur Gewissheit wurde, als Rosalind schluchzte.
    »Sie ist krank, furchtbar krank. Der Arzt meint, er wisse nicht, ob sie …« Rosalind wagte nicht, den Satz zu Ende zu führen, aber Susan verstand.
    »Kann ich zu ihr?«, fragte sie leise.
    »Ja, komm, sie wird dich aber nicht erkennen.«
    Während Susan Rosalind in den Kindertrakt hinauffolgte, erzählte diese stockend, was geschehen war.
    »Vor drei Tagen war ich mit Anabell in Plymouth, wir mussten noch einige Sachen für die Schule besorgen. Am Abend klagte sie über Halsschmerzen, und ihr Kopf war ganz heiß. Zuerst machte ich mir keine großen Sorgen, denn ein wenig Fieber bei Kindern ist normal, besonders, wenn sie aufgeregt sind. Und Anabell ist wegen ihrer Reise in die Schweiz sehr aufgeregt. Vorgestern jedoch begann sie zu husten, und als das Fieber immer weiter stieg, informierte ich Doktor van Roosen, den Hausarzt der Familie. Gestern diagnostizierte er eine schwere Lungenentzündung, er meinte, es könnte vielleicht die Spanische Grippe sein …«
    Erschrocken zog Susan die Luft ein. Seit mehreren Monaten grassierte die Spanische Grippe auf der ganzen Welt und hatte bis jetzt mehr Todesopfer gefordert als der furchtbare Krieg.
    »Aber wie sollte Anabell sich infiziert haben?«, fragte Susan. »Die Spanische Grippe grassiert doch gar nicht in England, jedenfalls hat man bisher von keinem Fall gehört.«
    Auf dem obersten Treppenabschnitt blieb Rosalind stehen und sah Susan ernst an. In ihren Augen stand tiefste Verzweiflung.
    »Der Hafen von Plymouth ist international, da treiben sich Seeleute aus der ganzen Welt herum. Krankheiten können sich leicht übertragen. Früher, als die Pest in England wütete, ging sie auch von den Hafenstädten aus.«
    Susan schluckte. Rosalinds Vergleich mit der Pest war nicht übertrieben. Obwohl der Ursprung der Krankheit in den Vereinigten Staaten vermutet wurde und von dort aus durch die Truppen in die Schützengräben Europas gebracht wurde, bezeichnete man sie als
Spanische Grippe
, da Spanien durch seine Neutralität im Krieg keiner Zensur unterlag und somit als erste Nation ausführlich über diese heftige und meistens tödlich verlaufende Erkrankung berichtet hatte.
    Anabells Zimmer war abgedunkelt und warm. Ein Dienstmädchen saß am Bett des Kindes. Als Rosalind und Susan eintraten, stand sie auf und knickste.
    »Sie ist eingeschlafen, Mylady. Das Fieber sinkt

Weitere Kostenlose Bücher