Das Lied der Luege
seiner leiblichen Mutter übergeben wird.« Susans Herz klopfte heftig. »Das Mädchen stammt eindeutig aus der von Ihnen bezeichneten
niedrigen Klasse
.«
»Nein!« Lavinias Schrei hallte durch den Saal und war sicher auch auf den Fluren zu hören. »Anabell ist mein Kind! Meine Tochter! Ich habe sie gefüttert und gewickelt. Ich habe an ihrem Bett gewacht, als sie ihre Zähne bekommen hat und wenn sie Fieber hatte und nicht schlafen konnte. Anabell kennt nur mich als ihre Mutter.« Mit einem wilden Blick sah Lavinia in die Runde. »Denkt hier eigentlich jemand an Anabell? Was es für sie bedeutet, aus ihrer gewohnten Umgebung herausgerissen zu werden und zu einer völlig fremden Frau zu müssen?«
Betreten schaute Susan zu Boden. Natürlich hatte sie daran gedacht, wie Anabell wohl reagieren würde, wenn sie die Wahrheit erfuhr. Immerhin war sie, Susan, dem Mädchen nicht völlig fremd, doch das Leben, das sie künftig in Boston führen würden, unterschied sich völlig von dem, was Anabell bisher gewohnt war. Bei Jimmy war es ähnlich gewesen, und der Junge hatte sich nach relativ kurzer Zeit an sein neues Leben gewöhnt. Anabell war jünger, als Jimmy damals gewesen war, außerdem erwartete sie in Boston ein ebenso sorgenfreies und angenehmes Leben wie in England, denn die Draycotts waren sehr vermögend.
Laut schluchzend sank Lavinia auf dem Stuhl zusammen und schlug die Hände vors Gesicht. Ihr Mann machte keinen Versuch, sie zu trösten. Regungslos verharrte er in seiner Position und sagte kühl: »Wir sind heute hier zusammengekommen, um diese leidige Sache aus der Welt zu schaffen, bevor sie publik wird. In meiner Position kann ich mir keinen Skandal leisten. Daher plädiere ich dafür, das Kind in unserem Haus zu belassen. Selbstverständlich wird Anabell weiterhin unseren Namen tragen, und niemand wird etwas über ihre« – seine Mundwinkel zogen sich verächtlich nach unten –, »über ihre gewöhnliche Herkunft erfahren. Seit fast zwölf Jahren sehe ich Anabell als meine Tochter an, als mein Fleisch und Blut, und dabei wird es bleiben. Das Mädchen kann schließlich nichts für die Dummheit, Geldgier und Verderbtheit ihrer
beider
Mütter.«
Lavinia warf ihrem Mann einen erstaunten Blick zu. Sie hätte nicht gedacht, dass er so sprechen würde, hatte eher damit gerechnet, zusammen mit Anabell aus dem Haus geworfen zu werden. Lavinia machte sich allerdings keine Illusionen. Edward ging es nicht um ihre oder Anabells Gefühle. Nein, ihm ging es einzig und allein darum, einen Skandal zu vermeiden. Nicht auszudenken, was geredet werden würde, wenn bekannt wurde, dass der Viscount of Tredary zwölf Jahre lang ein Kind erzogen hatte, das nicht sein eigenes ist.
»Ich teile Ihre Meinung, Mylord, dass wir die Sache hier und heute regeln sollten«, sagte der Richter und sah langsam von einem zum anderen. »Es ist nicht notwendig, dass die Presse davon erfährt. Mr. Draycott hat mir versichert, dass nichts, was in diesem Saal besprochen wird, jemals an die Öffentlichkeit dringen wird.«
Fünf Augenpaare starrten den Richter gespannt an, über Lavinias Wangen liefen immer noch Tränen. Der Richter schwieg einige Minuten, die sich zu Stunden zu dehnen schienen, dann rückte er seine Perücke zurecht, erhob sich und sagte mit lauter und klarer Stimme: »Es handelt sich hier nicht um ein Gerichtsverfahren, sondern lediglich um eine Anhörung, in der entschieden werden soll, ob ein Prozess sinnvoll ist und Aussicht auf Erfolg hat. Meines Erachtens liegt der Fall klar – das Kind Anabell Callington gehört zu seiner leiblichen Mutter, Mrs. Susan Draycott.« Sein Blick glitt zu Lady Lavinia, die wie zu Eis erstarrt war, dann zu Sir Edward. »Natürlich können Sie es auf einen Prozess ankommen lassen. Dabei wird es jedoch unvermeidlich sein, dass die Öffentlichkeit von der Angelegenheit erfährt. Ich kann nicht für meine Kollegen sprechen, denke jedoch, dass ein anderer Richter meiner Meinung folgen und das Kind seiner Mutter zusprechen wird.«
Mit einem Seufzer, als würde jegliches Leben aus ihr entweichen, sank Lavinia ohnmächtig zu Boden.
»Wir haben gewonnen!« Daniel strahlte und drückte Susans Hände. Sie saßen in einem kleinen Café unweit des Gerichtsgebäudes. »Du hast noch kein einziges Mal gelacht.«
Susans Mundwinkel zuckten, doch ein richtiges Lächeln brachte sie nicht zustande. Nach der Empfehlung des Richters war Sir Edward zu ihnen getreten und hatte gemeint, sie könnten
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