Das Lied der roten Erde (German Edition)
er überall genannt wurde. Obwohl rechtskräftig verurteilt, musste er nicht wie die anderen Sträflinge unter Deck ausharren, sondern war zahlender Passagier und hatte sogar seine Frau und seinen Sohn mitnehmen dürfen, wie Duncan von einem gut informierten Mithäftling erfahren hatte. Und dort hinten stand Dr. Price, der Schiffsarzt. Duncan mochte den jungen Mann, der sich nicht zu schade war, fast täglich nach den Gefangenen zu sehen und ihnen ihre Lage zu erleichtern, wo er nur konnte.
Dr. Price machte eine weit ausholende Bewegung, als er dem neben ihm stehenden Passagier etwas erklärte. Duncan kniff gegen das Sonnenlicht die Augen zusammen und sah sich den Mann genauer an. Ja, auch dieser war schon einmal bei den Gefangenen unter Deck gewesen. Ebenfalls ein Arzt. Sein Gesicht hatte eine ungesunde Färbung, und der rotbraune Backenbart ließ seine Züge mürrisch erscheinen. Die junge Frau an seiner Seite musste seine Tochter sein. Duncan sah sie nur von hinten, eine schlanke Gestalt in einem hellen Kleid. Unter ihrem Hut, dessen breite Krempe ihr Gesicht wie eine steife Haube umgab, wehten schwarze, halblange Haare. Etwas an ihrer Haltung drückte Traurigkeit aus. Nein, nicht direkt Traurigkeit. Eher Wut?
Was die beiden wohl nach Neuholland trieb? Er musste an Vater Mahoney denken, den Mann, der ihn aufgezogen hatte. Zum Glück hatte der alte Pfarrer nicht mehr miterleben müssen, wie man seinen Ziehsohn in eine Strafkolonie am Ende der Welt verbannt hatte. Es hätte ihm das Herz gebrochen.
Als die junge Frau sich über die Reling beugte, drehte sich ihr Vater um und sagte etwas zu ihr. Duncan spitzte die Ohren, aber er stand zu weit entfernt, um es verstehen zu können. Sie schüttelte den Kopf und wandte sich ab, und für einen Augenblick glaubte Duncan, einen Ausdruck von Abscheu in ihrem Gesicht zu sehen.
»Was für ein Leckerbissen!« Der Häftling hinter ihm schnalzte mit der Zunge. »Die käme mir jetzt gerade recht vor die Klinge.«
»Du bist und bleibst ein Schwein, Franklin!«
Die junge Frau bekam von diesen Anzüglichkeiten nichts mit. Duncan sah, dass sie erneut den Kopf schüttelte, diesmal heftiger. Bei dieser Bewegung löste sich ihr Hut und flog, von einer Bö erfasst, über das Deck. Duncan zuckte zusammen, als er in einer unbewussten Reaktion loslaufen und den Hut einfangen wollte. Nicht nur, dass er zu weit weg stand, es war auch schlichtweg undenkbar, dass Gefangene und Passagiere in dieser Weise Kontakt hatten.
Es war Dr. Price, der den Hut aufhob und ihr mit einer Verbeugung reichte, was sie mit einem schwachen Lächeln quittierte. Ihr Blick glitt über die Reihen von Gefangenen, die vor dem Waschzuber anstanden, und streifte auch Duncan. Sie sah ihn und sah ihn doch nicht, dann ging ihr Blick über ihn hinweg.
»Steh nicht da und glotz!«, herrschte ihn der Wärter an. »Los, vortreten!«
Er gehorchte nur widerstrebend. Als er nach einigen Minuten gebadet und angezogen wieder hinter dem Sichtschutz hervortreten durfte, sah er gerade noch, wie die junge Frau mit ihrem Vater unter Deck verschwand.
*
Der marmorne Stößel schabte mit knirschenden Geräuschen über den Boden des Mörsers, als Moira die letzten geschälten Mandeln zusammen mit dem Zucker zerrieb. Sie mussten ganz fein zermahlen werden, hatte Dr. Price gesagt. Als Moira ihr Werk schließlich für gut befand, füllte sie das Mandel-Zucker-Gemisch in ein Gefäß und gab langsam Wasser dazu, das sie für ein paar Minuten in die Sonne gestellt hatte. Jetzt war es handwarm – gerade die richtige Temperatur. Sie füllte die hellbraune Flüssigkeit bis auf einen halben Pint auf und rührte vorsichtig um.
Es war angenehm warm, nicht mehr ganz so heiß wie in den zurückliegenden Wochen. Zu Hause würden in diesen Tagen graue Nebelschwaden durch die Straßen kriechen und die Menschen froh sein, sich in ihre Häuser zurückziehen zu können. Sie dagegen konnte hier an Deck unter einem Sonnensegel sitzen und zusehen, wie die Sonne auf der Wasseroberfläche glitzerte und das Schiff unter ihr dahinzufliegen schien.
Dennoch vermisste sie den Nebel, die feuchte Kühle eines Herbstmorgens, die Ritte auf Dorchas durch das üppige Grün der Heimat. Der endlose Horizont machte ihr zuweilen Angst. An manchen Tagen wünschte sie sich regelrecht einen Sturm herbei. Dann stellte sie sich vor, an Deck zu stehen und den Wind und die brausende Gischt um sich zu spüren.
Die Tage vergingen in
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