Das Lied der roten Erde (German Edition)
allein.«
»Ich konnte entkommen«, begann Joseph O’Sullivan, genannt Bun-Boe, nachdem er sich neben Duncan am Feuer niedergelassen hatte. Allmählich sprach er sicherer. Als würde er sich nach und nach wieder an seine Muttersprache erinnern.
»Sie haben mich und zwei andere durch die Gassen zum Galgen geführt. Einer der anderen ist auf dem Weg zusammengebrochen und fing an zu flennen. Sie mussten ihn mit Gewalt wieder auf die Beine stellen und mit sich ziehen. Da bin ich losgerannt. Irgendwie kam ich zum Hafen und versteckte mich im Laderaum des erstbesten Schiffes. Es fuhr nach England.«
Duncan blickte auf, als jemand zu singen begann. Ein fremdartiger, gleichförmiger Gesang, erst aus einer einzelnen Kehle, dann fielen mehrere Frauen mit ein. Weiter hinten konnte er Samuel sehen, der sich über sein nächstes Stück Fleisch hermachte.
»Warum hast du dich nicht bei mir gemeldet?«, wandte er sich wieder an Bun-Boe. Joseph. Duncan würde ihn mit diesem Namen anreden. Ihn Vater zu nennen, brachte er nicht fertig. Noch nicht. »Ich dachte, du wärst tot!«
»Wie hätte ich das denn tun sollen? Ich kann weder lesen noch schreiben, und du auch nicht.«
Doch, wollte Duncan widersprechen. Vater Mahoney hat es mir beigebracht. Aber er schwieg. Das war jetzt nicht wichtig.
»Ich war auf der Flucht«, fuhr Joseph fort. »Niemand durfte wissen, wo ich bin. Es war besser, wenn alle glaubten, ich sei tot. Haben sich unsere Leute denn nicht um dich gekümmert?«
»Sie sind weitergezogen. Als man mich endlich freiließ, waren sie nicht mehr da«, gab Duncan düster zurück. Wahrscheinlich hatte man die Tinker vertrieben, wie schon so oft. Es war die härteste Zeit seines jungen Lebens gewesen. Noch heute erinnerte er sich an die vielen Nächte, die er schwach vor Hunger in Hauseingängen und alten Schuppen verbracht hatte. An die Angst, nie wieder ein Heim zu finden und ganz allein sterben zu müssen.
»O Gott, Junge, das tut mir so leid. Natürlich wollte ich zurückkommen und dich holen. Du warst doch alles, was ich hatte.« Erneut strich Joseph sich mit dem Handrücken über die Augen.
Ein neuer Ton mischte sich in den Gesang, die Frauen schlugen jetzt flache Stöcke aufeinander. Die Männer hatten sich in einer Reihe aufgestellt und begannen einen eigenartigen Tanz. Ruckartige Bewegungen, stampfende Füße, ähnlich wie die Tritte eines Tiers, zum Teil mit erhobenem Speer, als würden sie einem imaginären Feind drohen. Zwei Männer hatten sich dichtes Blätterwerk an die Knöchel gebunden, bei jedem ihrer stampfenden Tritte raschelte es. Dazu der monotone Singsang der Frauen, kehlig, fremd und von hypnotischer Schönheit.
»Wovon singen sie?«, fragte Duncan.
»Von der Zeit, als ihre Ahnen das Land schufen«, gab Joseph andächtig zurück. »Von der roten Erde und der Herkunft des Feuers.«
Der flackernde Feuerschein huschte über die dunklen Gesichter und Körper. Noch immer war sich Duncan nicht sicher, ob er nicht doch träumte. All das – die tanzenden Eora , der Gesang, sein Vater – schien mehr einem wirren Fiebertraum entsprungen zu sein als der Wirklichkeit.
Josephs Stimme riss ihn zurück. »Ich habe mich bis nach London durchgeschlagen«, sprach er weiter. »Aber dort ging es mir nicht besser als in Irland. Ich habe versucht, über die Runden zu kommen, aber ich hatte kein Geld und nichts zu essen. Ich musste stehlen, um zu überleben. Und dann haben sie mich ein zweites Mal geschnappt. Und wieder verurteilt, diesmal zu lebenslänglicher Deportation nach Neuholland, wo eine neue Strafkolonie errichtet werden sollte. Ich war schon unter Deck, kaum dass ich wusste, wie mir geschah. Acht Monate später trafen wir mit elf Schiffen in diesem Land ein. Mit siebenhundert Sträflingen haben wir aus dem Nichts angefangen. Oh, es waren harte Zeiten! Nur Hunger und Arbeit, und für jedes kleine Vergehen gab es die Peitsche.« Er verzog das Gesicht zu einem vagen Grinsen. »Ich bin nicht lange geblieben. Nach ein paar Wochen konnte ich meinen Bewachern entkommen. Ich landete bei diesen freundlichen Menschen hier und nahm mir eine von ihnen zur Frau. Sie bekam ein Kind, aber dann kam die Seuche. Viele starben. Auch sie.«
Duncan sah erneut zu den Tänzern. Der monotone Gesang der Frauen und der Tanz der Männer verschmolzen zu einer einzigen Wahrnehmung. Sein Blick fiel auf Ningali, die bei den Frauen saß und wie diese rhythmisch zwei flache Stöcke
Weitere Kostenlose Bücher