Das Lied der roten Erde (German Edition)
cremefarbenen Kleid und den hochgesteckten dunklen Haaren wirkte sie wie das blühende Leben. Niemand sah ihr an, welchen Schrecken sie gestern überstanden hatte.
Moira ließ sich ein paar Eier und Toast auftischen und aß ohne großen Appetit. Das Angebot an Speisen war mit Räucherfisch, Spiegeleiern, Brot, Marmelade, Porridge und gebratenem Speck üppiger, als sie es nach dem gestrigen Tag erwartet hätte. Sollte sie Mrs King darauf ansprechen, was Duncan inzwischen alles vorgeworfen wurde? Während sie noch an dieser Frage brütete, waren von draußen Stimmen und Pferdewiehern zu hören. Eilige Schritte durchquerten den Flur. Mrs King betupfte sich die Mundwinkel mit einer Serviette.
»Bitte, Mrs McIntyre, entschuldigt mich. Ich glaube, mein Gatte ist da.« Sie erhob sich, raffte ihren Rock und eilte aus dem Zimmer.
Moira hatte keinen Hunger mehr. Sie schob ihren halbvollen Teller zurück, stand ebenfalls auf und trat ans Fenster. Das Regenwetter hatte einem strahlend blauen Himmel Platz gemacht, Pfützen trockneten in der Sonne. Eine kleine Versammlung hatte sich auf dem Platz neben dem Haus eingefunden, um den Gouverneur zu begrüßen. Moira erkannte Major Penrith, weitere Soldaten und McIntyre sowie etliche Hausangestellte. Gerade eilte der Pferdeknecht herbei, der ihr am Vortag den Braunen abgenommen und sie mit einem Handtuch versorgt hatte. Als sie sah, wie liebevoll sich die Eheleute King umarmten, durchzuckte es sie wie ein scharfer Stich. Gleichzeitig wuchs ihre Unruhe. Sie hatte keine Lust, dem nun sicher folgenden Aufruhr, den erneuten Erzählungen und Befragungen beizuwohnen. Sie wollte fort, und wenn es nach Toongabbie war. Bei all den Aufregungen des vergangenen Tages hatte sie noch keine Zeit gefunden, an ihre eigene Unterkunft zu denken. Ob die Überschwemmung dort großen Schaden angerichtet hatte? Duncan hatte zwar gesagt, sie solle hier auf ihn warten, aber mit diesem Gedanken konnte sie sich nicht anfreunden. Er war in Schwierigkeiten. Womöglich brauchte er ihre Hilfe. Und vielleicht wartete er ja in Toongabbie auf sie.
Das Begrüßungskomitee verweilte noch immer auf dem kleinen Platz neben der Residenz. Ob sie auch dazutreten sollte? Gerade erstattete Major Penrith dem Gouverneur Bericht. Nein, entschied sie, sie würde einfach so gehen. Der Major hatte gestern Abend schließlich gesagt, sie könne sich frei bewegen. Er hatte nicht zu verstehen gegeben, dass sich diese Aussage nur auf die Residenz bezog. Kurzentschlossen trat sie aus der Haustür, sah, dass der Pferdeknecht alle Hände voll mit den Pferden des Gouverneurs und seiner Gefolgschaft zu tun hatte, und wandte sich in Richtung Stall. Ein Soldat kam ihr entgegen. Der Mann hatte es sichtlich eilig, hielt aber an, als sie ihn ansprach.
»Sir«, bat sie. »Wäret Ihr so freundlich und würdet meinem Mann, Dr. McIntyre, und Major Penrith ausrichten, dass ich nach Toongabbie zurückkehre?«
»Natürlich, Madam.«
»Ach, und richtet Mrs King meinen Dank aus. Ich werde ihr beizeiten eine Nachricht zukommen lassen.« Dass sie sich nicht von ihr verabschieden konnte, belastete sie, aber die Frau des Gouverneurs würde es unter diesen Umständen sicher verstehen.
»Sehr wohl, Madam.« Der Soldat deutete eine knappe Verbeugung an und eilte weiter.
Im Stall war kein Mensch zu sehen; der Braune stand in einem Verschlag und schnaubte freudig, als sie sich ihm näherte. Der Sattel und die Satteldecke waren ordentlich aufgehängt. Schnell hatte sie das Pferd gesattelt und aus dem Stall geführt. Als sie aufsitzen wollte, glaubte sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung zu sehen und hielt inne. Ja, sie hatte recht gehabt: Dort am Waldrand, wo ein Weg in den Busch führte, stand eine kleine, schmale Gestalt und winkte. July! Wie lange hatte sie das Mädchen nicht mehr gesehen! Moira blickte sich um. Niemand achtete auf sie. Rasch führte sie das Pferd ein paar Schritte in den Wald, bis sie July und ihren ständigen Begleiter, den Dingo, erreicht hatte.
»July! Was tust du hier? Das ist gefährlich! Der Major ist hier!«
Es hatte ja doch keinen Sinn. Das Mädchen verstand sie sicher nicht, und selbst wenn, dann –
»Dan-Kin«, sagte July in diesem Moment und lächelte breit.
Moira blieb vor Überraschung der Mund offen stehen. »Du kannst reden?«, war alles, was sie herausbrachte. Dann erst ging ihr die Bedeutung von Julys Worten auf, und jäh durchzuckte sie Hoffnung. »Hast du gerade ›Duncan‹
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