Das Lied der roten Erde (German Edition)
allem fähig. Sie haben keine Ehre und keine Moral.« Der Major legte die Hände zusammen. »Ich kann es gar nicht erwarten, diesen Bastard baumeln zu sehen.«
»Der Einzige, der hier keine Ehre hat, seid Ihr«, gab Moira mit so viel Verachtung zurück, wie sie aufbringen konnte, obwohl sie ihn am liebsten angeschrien hätte. »Wenn es so etwas wie göttliche Gerechtigkeit gibt, dann werdet Ihr dereinst in der Hölle schmoren.«
»Moira, du wirst auf der Stelle ruhig sein!« Zum ersten Mal mischte sich McIntyre in das Gespräch ein.
»Nein, nein, McIntyre, lasst sie nur!«, winkte der Major ab. »Ich finde es höchst amüsant, was sie zu sagen hat.« Er wischte einen Fussel von seiner Uniformjacke. »Was findet Ihr eigentlich an diesem O’Sullivan, dass er Euch dermaßen den Kopf verdreht?«
Für einen Augenblick hatte Moira den Eindruck, als würde der Major bei dieser Frage nicht sie, sondern ihren Mann ansehen. McIntyre schwitzte, feine Schweißtröpfchen standen auf seiner Oberlippe. Er holte ein Taschentuch aus seiner Westentasche und fuhr sich damit über das Gesicht. War er krank?
»Nun, so kommen wir nicht weiter«, sagte der Major. »Ich schlage vor, Ihr zieht Euch zurück. Vielleicht vermag die Nachtruhe Euer Gedächtnis aufzufrischen.« Er rief den Soldaten, der vor der Tür stand, herein. »Bringt Mrs McIntyre nach oben ins Gästezimmer. Ihr, McIntyre, bleibt, mit Euch habe ich noch zu reden.«
Moira blieb noch einen Augenblick stehen. »Bin ich Eure Gefangene?«
»Aber nicht doch, Mrs McIntyre. Ihr könnt Euch frei bewegen. Und falls Euch noch etwas einfallen sollte, dann zögert nicht, mich aufzusuchen.«
Sie zog es vor, nicht darauf zu antworten, drückte den Rücken durch und folgte dem Soldaten die Treppe hinauf in den ersten Stock.
*
Duncans Kopf war vollständig leer. Was hatte er da gesagt? Dieser Mann konnte nicht sein Vater sein. Sein Vater war tot. Man hatte ihn vor über dreizehn Jahren wegen Pferdediebstahls hingerichtet. Er musste träumen. Das alles passierte gar nicht wirklich. Sicher würde er gleich aufwachen und sich gefesselt im Vorratsschuppen wiederfinden.
»O Gott, Duncan – bist du es wirklich?« Der andere – sein Vater? – schloss ihn in die Arme. Duncans Körper versteifte sich in unwillkürlicher Abwehr. »Das … das ist ja einfach unglaublich! Der Herrgott und alle Heiligen seien gepriesen! Du weißt ja gar nicht, wie sehr ich dich vermisst habe! Ich … ich dachte, ich würde dich nie wiedersehen!«
Duncan atmete schwer und ballte die Fäuste, bis sich seine Fingernägel schmerzhaft in seine Handflächen bohrten. Das fehlte noch, dass er hier in Tränen ausbrach. Fast grob befreite er sich aus der Umarmung. Sein Blick fiel auf Ningali, die sie schweigend und nahezu bewegungslos beobachtete. Nur ihre Augen glitten von einem zum anderen, verfolgten aufmerksam jede Bewegung. Verstand sie, was hier vor sich ging?
»Ich fass es nicht!« Samuels Schlag traf Duncans Schulter. »Das ist dein alter Herr? Freut mich, freut mich sogar sehr, Mr O’Sullivan.« Er schüttelte dem Älteren erneut die Hand. »Mensch, Duncan, wenn das keine göttliche Fügung ist, dann will ich Protestant werden. Hast du nicht gesagt, dein Vater sei tot?«
Duncan nickte wie betäubt. Er verstand überhaupt nichts mehr. Urplötzlich fühlte er sich wieder wie der kleine Junge, dem der Kerkermeister gesagt hatte, dass man seinen Vater gehängt habe. Oder waren dessen Worte weniger deutlich gewesen? Möglicherweise hatte er auch nur gesagt: »Den haben sie vorhin abgeholt, um ihn aufzuhängen.« So genau konnte Duncan sich nicht mehr daran erinnern. Er wusste nur noch, dass ab diesem Zeitpunkt seine Kindheit zu Ende gewesen war.
»Wieso?«, murmelte er. »Wieso bist du am Leben? Wieso bist du hier?«
Joseph O’Sullivan wischte sich ein paar Tränen aus dem Gesicht, einige glitzerten noch in seinem Bart. »Das hat Zeit. Lass uns doch erst einmal feiern!«
»Nein«, sagte Duncan. »Du wirst es mir jetzt erklären!«
»Duncan, sei nicht so unfreundlich«, mischte Samuel sich erneut ein. »Und was ist denn gegen ein bisschen Feiern einzuwenden?«
Duncan schüttelte den Kopf. » Er wusste, dass ich lebe. Ich wusste nichts von ihm.«
Samuel hob die Schultern. »Tu, was du für richtig hältst. Ich werde jedenfalls sehen, dass ich noch etwas zu essen bekomme.« Er nickte Ningali zu. »Komm, Mädchen, lassen wir die beiden
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