Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Lied der roten Erde (German Edition)

Das Lied der roten Erde (German Edition)

Titel: Das Lied der roten Erde (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inez Corbi
Vom Netzwerk:
aufeinander schlug. In diesem Moment wandte sie ihm ihr Gesicht zu, und ihre kindlichen Züge erstrahlten in einem Lächeln.  
    »Ningali«, murmelte er, als sich schlagartig die Erkenntnis in ihm formte. »Deswegen! Sie ist … meine Schwester!«  
    Joseph nickte. »Deine Halbschwester. Was meinst du mit ›deswegen‹?«  
    Duncan war leicht schwindelig, als hätte er zu viel getrunken. »Sie war immer in meiner Nähe. Sie hat mir geholfen. Mehrmals.« So rasch wie möglich berichtete er von seinen Begegnungen mit dem Mädchen. »Woher wusste sie es? Wie konnte sie wissen, dass wir … dass wir Geschwister sind?« Geschwister. Welch ungewohntes Wort für ihn, der nie einen Bruder oder eine Schwester gehabt hatte.  
    Joseph schüttelte nachdenklich den Kopf. »Ich denke nicht, dass sie es wusste. Sie wird es gespürt haben. Sie hat eine ganz besondere Gabe. Nach ihrer Initiation wird sie zur Schamanin ausgebildet werden. Wie ihre Großmutter.«  
    Der Abend ging über in die Nacht. Ein blauschwarzer Himmel breitete sich über ihnen aus, die ersten Sterne glänzten über den Baumwipfeln. Nachdem der Gesang der Eora verstummt war und die Tänzer zur Ruhe gekommen waren, durchdrang eine neue Stimme die nächtliche Stille. Eine klangvolle, dunkle Stimme. Samuel sang, dasselbe irische Liebeslied, das Duncan schon einmal von ihm gehört hatte und das von Heimweh und verlorener Liebe erzählte. Mit plötzlicher, schmerzhafter Heftigkeit wünschte er, Moira könnte hier bei ihm sein. Er sehnte sich nach ihr, nach ihrem Lachen, ihrer Berührung. Und während die Nacht voranschritt und sich die Eora allmählich in die Hütten zurückzogen oder zum Schlafen um das Feuer legten, begann auch Duncan zu reden. Von seinem Leben in Irland, von seiner Verurteilung und von seinem Leben als Sträfling. Und von Moira.  
    Nachdem Duncan geendet hatte, saß Joseph für eine Weile stumm neben ihm und blickte in das flackernde Feuer.  
    »Ich habe eine Idee«, sagte er dann.  

22.  
     
    Moira schlug die Augen auf und gähnte. Ein Sonnenstrahl fing sich in dem roten Baldachin über ihrem Kopf, rote Bettwäsche umgab sie. Dann kam ihr der gestrige Tag wieder ins Gedächtnis, und hastig setzte sie sich auf. Sie war in einem Zimmer in der Residenz des Gouverneurs, trug nur ihr Unterkleid, und der Helligkeit nach zu schließen, musste es bereits später Vormittag sein.  
    Ein bohrender Schmerz saß in ihrer Schläfe. Sie hatte nicht erwartet, überhaupt schlafen zu können. Stundenlang hatte sie sich hin- und hergewälzt und über die dramatischen Ereignisse des vergangenen Tages nachgedacht. Erst am frühen Morgen war sie in einen unruhigen Schlaf gefallen.  
    Ihr erster Gedanke galt Duncan. War ihm und Fitzgerald tatsächlich die Flucht geglückt? Oder war er längst gefasst und man hielt ihn irgendwo gefangen? Und – hatte er wirklich jemanden getötet, wie es der Major behauptete? Sie drängte die Tränen zurück. Wenn sie jetzt anfing zu weinen, würden Angst und Sorge überhandnehmen. Das durfte sie nicht zulassen.  
    Entschlossen schlug sie die schwere Decke zurück und stieg über eine kleine, dreistufige Fußbank aus dem hohen Bett, das breit genug war für zwei Personen. Sie benutzte den Nachttopf, dann goss sie Wasser in die Waschschüssel, wusch sich, fuhr sich kurz durch die Haare und kleidete sich an. Ihr gelbes Kleid hatte durch den gestrigen Regen gelitten und war nun reichlich zerknittert. Anschließend rückte sie die Kommode beiseite, die sie am Abend vor die Tür geschoben hatte, um unliebsame Besucher auszusperren, entriegelte die Tür und ging hinunter.  
    Kaum etwas wies darauf hin, dass sich im Haus am Vortag eine Horde rebellischer Sträflinge ausgetobt hatte. Scherben und zerstörte Möbel waren weggeräumt, Tische und Stühle standen wieder an ihrem Platz, und im Treppenhaus waren zwei Diener dabei, das Geländer abzustauben.  
    Zu ihrer Erleichterung war im Frühstückszimmer außer einem Hausmädchen nur noch Mrs King anwesend, die sie herzlich begrüßte. »Ihr seht blass aus, Mrs McIntyre. Konntet Ihr ein wenig schlafen?«  
    Moira murmelte eine höfliche Erwiderung, entschuldigte sich, dass sie so spät kam, und setzte sich, während das Hausmädchen ein neues Gedeck auflegte und ihre Teetasse füllte.  
    »Der Gouverneur wird jeden Moment hier eintreffen.« Mrs King schien ihr Frühstück bereits beendet zu haben und ließ sich nun noch eine weitere Tasse Tee eingießen. In ihrem

Weitere Kostenlose Bücher