Das Lied der roten Erde (German Edition)
er sich seit langer Zeit nicht mehr gefühlt. Nicht mehr, seit sie ihn in Irland in den Kerker gesteckt hatten. Ob das Mädchen, July, ihnen noch folgte? Sie war wohl im Busch zurückgeblieben, nachdem er nicht mit ihr gegangen war. Wohin hatte sie ihn bringen wollen? Zu ihrem Stamm? Aber dort gab es sicher nichts und niemanden, der Moira hätte helfen können. Hatte July überhaupt den Ernst der Lage begriffen?
Am Abend kamen sie an den Fluss. Duncan folgte dem Wasser, bis er eine Stelle fand, die schmal genug war. Das dunkle, schäumende Wasser stand hier höher als dort, wo sie den Fluss vor wenigen Tagen überquert hatten, aber es half nichts. Wenn er jetzt wartete, konnte es für Moira zu spät sein. Er vergewisserte sich erneut, dass sie gut auf dem Pferderücken festgebunden war, dann führte er das Tier in den Fluss. Das Wasser reichte dem Pferd bis über den Bauch, Moiras Hände und Füße wurden nass und auch die Spitzen ihrer schwarzen Mähne. Sie regte sich nicht, dabei war es kalt, viel kälter, als es ihm damals vorgekommen war.
Die Dunkelheit brach schnell herein. Die dicken Wolken hatten sich verzogen und mit ihnen auch der Regen, ein fast voller Mond leuchtete ihnen. Wie lange lief er schon? Er zitterte vor Kälte, und einige Male stolperte er über seine eigenen Füße – immer mehr machte sich bemerkbar, dass er seit Tagen nichts gegessen hatte.
»Und ob ich schon wanderte …« Wie ging der Psalm weiter? Sein Kopf war wie leergefegt, er erinnerte sich nicht mehr. Stattdessen hielt er sich an ein paar anderen Worten fest. Sie wird nicht sterben. Sie wird wieder gesund. Immer wieder wiederholte er diese Worte, schob sie in seinem Kopf hin und her, bis sie ein Muster mit seinen Schritten ergaben, das ihn aufrecht hielt. Sie wird nicht sterben .
*
Er ging wie in Trance, setzte einen Fuß vor den anderen, stetig, unbeirrbar. Auch das Pferd schien wie im Schlaf vor sich hin zu stapfen, Moira hin und her wiegend. Am Morgen, mit den ersten Strahlen der Sonne, begann der Regen erneut, ein leichter Schauer, der ihn aus seiner Betäubung riss. Duncan blinzelte in das fahle Morgenlicht, aus dem sich die Umrisse der ersten Sträflingshütten schälten. War er tatsächlich angekommen? Rauch stieg auf – es war kurz nach dem Morgenmahl. In einer Seitengasse konnte er eine Gruppe Sträflinge erkennen, die einen Schuppen errichteten. Auf der lehmgestampften Straße, die durch Toongabbie verlief, waren einzelne Leute unterwegs.
Er stolperte einfach geradeaus, seine kostbare Fracht hinter sich führend, bis eine vertraute Stimme an sein Ohr drang: »Duncan?«
Aufgeschreckt blieb er stehen und schaute auf. Im nächsten Moment wäre er fast gefallen, weil das Pferd ihm den Kopf in den Rücken stieß. Vor ihm stand Ann, die Augen vor Erstaunen – oder war es Entsetzen? – weit aufgerissen. Sie hielt einen Korb mit Brot in der Hand.
»Wieso … wieso bist du zurückgekommen?« Dann erst sah sie, was er mit sich führte. Ein leiser Schrei entfuhr ihr. »O mein Gott – Mrs McIntyre! Ist sie … tot?« Sie wich vor ihm zurück, als er auf sie zutrat, und sah sich erschrocken um. »Hilfe!«
»Nein! Hör mir zu!« Seine Stimme schien kaum mehr zu ihm zu gehören. »Bring sie … bring sie zum Doktor. Sag ihm, sie … sie hat ein Kind verloren. Bitte!«
Mit letzter Kraft drückte er ihr den Strick des Pferdes in die Hand. Ann wollte sich erst weigern, doch dann nickte sie zögernd und entfernte sich mit hastigen kleinen Schritten, das Pferd mit Moira hinter sich herführend.
Duncan sah ihnen nach, bis sie um eine Hausecke verschwanden. Er hatte es geschafft. Er hatte Moira zurückgebracht. Es war Zeit zu verschwinden. Jetzt. Sofort. Aber er hatte keine Kraft mehr. Ihm war schwindelig vor Hunger und Erschöpfung, und er konnte sich kaum noch auf den Beinen halten.
Leute kamen. Aufseher. Er würde sich nicht wehren. Wenn er sich nicht wehrte, wären sie vielleicht etwas gnädiger.
Der erste Schlag traf ihn mitten in den Magen. Er beugte sich vor, japste nach Atem, als auch schon die nächsten Schläge auf ihn niederprasselten – eine Kaskade von Schlagstöcken und Fausthieben, wieder und wieder, bis er eingehüllt war in einen Nebel von Schmerzen. Er krümmte sich zusammen, schützte seinen Kopf mit den Armen und ließ es geschehen, nahm den Schmerz an als seine Buße.
Danach brachte man ihn in eine Hütte und kettete ihn fest. Als sich die Tür hinter ihm
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