Das Lied der roten Erde (German Edition)
kleinste Kind, das er je gesehen hatte, war ein wenige Tage alter Säugling gewesen, den Vater Mahoney getauft hatte. Damals war er fasziniert gewesen von den kleinen Händen und Füßen, dem verknitterten Gesicht. Doch das war nichts gegen das, was er jetzt sah. Ein winziger, unfertiger Körper lag da vor ihm, gerade so lang wie sein kleiner Finger, mit einem im Verhältnis zu seiner Größe riesigen Kopf und kümmerlichen Gliedmaßen, die aussahen, als hätten sie sich bis eben noch bewegt. Sein Kind. Ein Teil von ihm, der nicht leben durfte. Es tat weh, und doch konnte er den Blick nicht abwenden von der winzigen Gestalt mit den gekrümmten Beinchen. Dieses Kind hatte in Moira gelebt.
Ob er es berühren konnte? Er streckte die Hand aus, strich unendlich behutsam über die durchscheinende Haut des toten Wesens. Für einen Moment glaubte er, das leblose Körperchen hätte sich bewegt. Aber es war nur sein eigener Atem gewesen.
Hatte ein so kleines Kind bereits eine unsterbliche Seele? Duncan glaubte sich zu erinnern, dass die Seele mit dem vierzigsten Tag in ein Ungeborenes fuhr. Wie alt war dieses Kind? Wohl höchstens drei Monate. Alt genug, um eine Seele zu haben. Die Seelen ungetaufter Kinder kamen in den Limbus, eine Art Vorhölle, wo sie Gott nie sehen würden. Hatte Vater Mahoney ihm nicht einmal erzählt, in einer Notlage dürfe ein jeder Christ die Taufe vornehmen? Nun, dies war eine Notlage. Er warf einen Blick auf die schlafende Moira. Sie hatte sicher nichts dagegen.
In der Ferne grollte Donner, dann fielen die ersten Tropfen. Wasser. Gut, das würde für seine Zwecke reichen müssen. Behutsam legte er den winzigen Klumpen Mensch auf seine linke Handfläche und hielt ihn in den Regen. Dann schlug er feierlich das Kreuzzeichen darüber.
»Ich taufe dich im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes«, murmelte er. Ob er dem Kind auch einen Namen geben sollte? Nein. Gott würde es sicher auch ohne aufnehmen.
Er grub mit bloßen Händen ein Loch in die weiche Erde. Dann packte er ein paar von den dunklen Blättern eines Busches hinein, legte den kleinen Körper darauf und bedeckte ihn wieder mit Blattwerk und Erde.
Der Regen nahm zu, prasselte nieder wie Sandkörner. Duncans Blick ging wieder zu Moira. Er würde sie unter die Bäume bringen. Hier war sie dem Regen zu sehr ausgesetzt.
Bewegungslos wie eine Puppe lag sie da. Der Regen mischte sich mit der blutigen Lache neben ihr, bildete Rinnsale. Der kupfrige Geruch des Blutes verursachte ihm Übelkeit.
»Moira?« Sie rührte sich nicht, zeigte mit keiner Regung, dass sie ihn gehört hatte. Er rüttelte sie sanft. »Moira?«
Sie lag so schrecklich still da. Und der Geruch nach Kupfer war stärker geworden. Er schlug Rock und Mantel über ihr zurück.
Sie schwamm in Blut.
»O nein, nein!« Entsetzt schüttelte er sie. »Moira, bitte! Bleib bei mir!«
Lähmende Angst kroch in seine Eingeweide. Bitte, Gott … Sie atmete, wenn auch nur schwach und leicht wie ein Vögelchen. Er kniete sich neben sie, richtete ihren Oberkörper auf, umarmte sie. Sie rührte sich nicht.
Dann nahm er im Augenwinkel eine Bewegung wahr. Aus dem Schatten der Bäume löste sich eine Gestalt.
*
Nachdem die Ahnen die Welt geschaffen hatten, verwandelten sie sich in Berge, in Wasserlöcher und in Sterne. Jetzt lebten sie in den Bäumen, den Felsen, sogar in dem Regen, der gerade vom Himmel fiel.
Seit Tagen folgte Ningali den beiden, Mo-Ra und dem Mann, der sich Dan-Kin nannte. Die Großmutter hatte Ningali Geduld gelehrt. »Deine Zeit wird kommen«, hatte sie gesagt. Die Großmutter war weise. Aber jetzt war etwas passiert, was sie nicht vorhergesehen hatte. Das Geistkind, das sich in Mo-Ras Körper eingenistet hatte, war zurückgekehrt in den Teich der Seelen und hatte nur seine tote Hülle zurückgelassen.
Versteckt von dem dichten Blattwerk hatte Ningali zugesehen, wie Dan-Kin ein kurzes Ritual über dem toten Körper ausgeführt und ihn anschließend im heiligen Boden begraben hatte. War auch er ein Schamane, wie die Großmutter? Doch jetzt stand Mo-Ras Geist nah an der Grenze zur Welt der Toten.
Ningali wusste, was sie tun musste. Sie legte dem Dingo, der sie stets wie ein Schatten begleitete, die Hand auf den Rücken zum Zeichen, sich nicht von der Stelle zu bewegen. Er gehorchte ihr trotz des Blutgeruchs. Es war an der Zeit, sich zu zeigen.
Als sie aus den Büschen hervortrat, schreckte Dan-Kin
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