Das Lied der roten Erde (German Edition)
in ihre Rolle als Ehefrau eines Arztes. Sie widersprach ihrem Mann selten und schien ihn trotz seines Hangs zur Eigenbrötelei zu schätzen, ja gar zu lieben. So hätte es weitergehen können, wenn Alistair nicht eines Tages jenen verhängnisvollen Fehler begangen hätte.
Wäre er doch nie auf diesen Maskenball gegangen! Er war ohnehin kein Freund leichter Unterhaltung, und die frivole Freizügigkeit solcher Veranstaltungen reizte ihn normalerweise nicht. Aber an diesem Abend hatte er sich der Einladung eines einflussreichen Clubmitglieds nicht entziehen können. Victoria, die sich genauso wenig aus diesen Feiern machte, hatte sich ihm zuliebe ein Kostüm nach Art eines weißen Schwans besorgt. Am Abend des Balls war sie jedoch unpässlich, so dass sich Alistair, angetan mit einer dunklen Pfauenmaske, allein auf den Weg zum Ball machte.
Dort, unter maskengeschmückten Gesichtern und verkleideten Gestalten, hatte er ihn kennengelernt. Bis heute wusste Alistair nicht, wie der andere hieß oder wer er war. Es war Verstehen auf den ersten Blick aus jenen stahlblauen Augen hinter der Maske gewesen. Noch nie hatte er bei einer Frau Ähnliches empfunden. Sie hatten kaum miteinander gesprochen, so sehr war Alistair von diesen Augen, diesem sinnlichen Mund angezogen. Er trank sich satt am Anblick des anderen, wagte einen wortlosen Flirt, genoss das Spiel mit dem Feuer, bis sie sich schließlich in einen der oberen Räume zurückzogen, die für Vergnügungen jeglicher Art vorgesehen waren.
Er hatte getrunken. Zu viel. Nur so konnte Alistair es sich später erklären, dass er zum ersten und einzigen Mal in seinem Leben seinen Neigungen nachgegeben hatte. Und welche Wonnen es ihm bereitete, den herben Moschusduft zu riechen, männliches Fleisch unter sich zu spüren, den anderen stöhnen zu lassen! Dann wechselten sie, atemlos, erhitzt vom verbotenen Spiel, und diesmal war es Alistair, der seine Lust ins Kissen schrie, als sein Gespiele ihn eroberte. Während der andere sich in ihm bewegte, glaubte Alistair, etwas aus dem Augenwinkel zu sehen, einen weißen Schatten in der Türöffnung. Aber in diesem Moment legten sich die Finger seines Partners um sein Geschlecht, und vergessen war alles andere.
Als sie sich danach wieder ankleideten, bemerkte Alistair, dass die Tür nicht verschlossen war. Auf der Schwelle lag eine weiße Schwanenfeder.
Der Abend schmeckte plötzlich schal. Er wollte nur noch nach Hause. Lange musste er auf eine Kutsche warten, und als sie endlich kam, trieb er den Fuhrmann an, sich zu beeilen. Noch im Wagen riss er sich die Maske vom Gesicht, stolperte, kaum dass sie angekommen waren, ins Freie, zahlte dem Fuhrmann einen unerhörten Lohn und öffnete die Haustür mit zitternden Fingern. Victorias Rosenduft schwebte in der Luft, die weiße Schwanenmaske mit den vielen Federn lag im Hausflur. Die Tür zu seinem Sprechzimmer war offen. Angstvoll trat er ein, sah die aufgeklappte Medikamentenkiste, das leere Fach, in dem er sonst die Flaschen mit dem Laudanum verwahrte.
Sie lag im Schlafzimmer auf dem Ehebett, noch im Schwanenkostüm, eine Hand auf der Brust, die andere war herabgeglitten. Die Droge hatte schnell gewirkt. Victorias Haut wies bereits jene Blässe auf, die nur der Tod verursachte. Auf dem Nachttisch lag ein Brief, an ihn adressiert. Alistair hatte ihn mittlerweile so oft gelesen, dass er die wenigen, hastig hingekritzelten Zeilen voller Anklagen und Vorwürfe auswendig aufsagen konnte. Den Rest reimte er sich selbst zusammen.
Offenbar war sie ihrem Mann, dem diese gesellschaftliche Verpflichtung so wichtig gewesen war, gefolgt. Als sie ihn bei den Feiernden nicht gefunden hatte, war sie wohl nach oben gegangen. Und dort musste sie ihn bei seiner widernatürlichen Unzucht gesehen haben, musste ihn an dem großen Muttermal an seinem Knöchel erkannt haben.
Wieso war sie doch noch auf den Ball gegangen? Wieso hatte sie ihn gesucht? Aber diese Fragen führten zu nichts, auch wenn Alistair sie sich immer wieder gestellt hatte. Es zählte einzig und allein, was sie gesehen hatte. Und dass sie lieber den Tod gewählt hatte, als mit der Schande leben zu müssen, jemanden zum Ehemann zu haben, der jener schrecklichen Sünde der Sodomie frönte.
Wenigstens war es ihm gelungen, Victorias Selbstmord als ein Versehen hinzustellen. Sie habe etwas gegen ihre Kopfschmerzen nehmen wollen und sich in der Dosierung vertan, behauptete er. Die Zeitungen zweifelten nicht an seiner
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