Das Lied der schwarzen Berge
daneben.
Aufseufzend ließ sich Ralf auf das Lager sinken. Er warf die Decke über sich und hörte schon nicht mehr, daß Marina die Tür schloß. Kaum, daß er lag, fiel er in einen bleiernen Schlaf und lag wie ein Toter auf dem weichen Gras.
Als Ralf Meerholdt am Morgen aus seiner Kammer in den großen Raum trat, waren Fedor und Marina schon in den Wald gegangen und schlugen Stämme für das Winterfeuer. Auf der Wiese hinter der Hütte, zu den Felsen hin, weideten zwei Kühe … die Dorfschafherde war unterwegs zu den Weideplätzen oberhalb des Dorfes.
Ralf trat vor die Hütte und überblickte erstaunt das kleine Bergdorf. Die Ziehbrunnen, die vor jedem Haus standen, verrieten ihm, daß hier über Wassermangel nicht zu klagen war, und auch die Wiesen waren saftiger, als er es sich gedacht hatte. Das Vieh sah gut aus, wohlgenährt, gepflegt. Außer den Brunnen lief entlang der Dorfstraße eine große Viehtränke – fließendes Wasser, das man durch halbe, ausgehöhlte Baumstämme leitete und das weiter hinten, am Ende des Dorfes, in einer kleinen Schlucht versickerte.
Interessiert trat Ralf an den Ziehbrunnen heran und beugte sich über den gemauerten Rand. Das klare Bergwasser stand etwa einen Meter unterhalb des Randes. Er nahm den hölzernen Eimer und ließ ihn an der Hanfschnur hinab, zog ihn gefüllt wieder empor und tauchte seinen Kopf hinein. Das Wasser war kalt, kristallklar und ungewöhnlich weich. Als er den Kopf wieder aus dem Eimer zog und sich wie ein nasser Hund schüttelte, hörte er hinter sich ein helles Lachen. Er ließ den Eimer fallen und drehte sich schnell herum. Ein Mädchen stand am Brunnen, und ihr Gesicht war eine einzige Fröhlichkeit.
Verlegen fuhr sich Ralf durch die wirren, nassen Haare und verbeugte sich leicht. »Du hast recht, wenn du lachst«, sagte er. »Ich muß aussehen wie eine nasse Katze.«
Er holte ein großes Taschentuch aus der Hose und trocknete sein Gesicht und die Hände ab. Das Mädchen hatte währenddessen den hingeworfenen Eimer genommen und wieder auf den Brunnenrand gestellt.
Sie war mittelgroß, hatte langes, lockiges schwarzes Haar, und ihr schmales Gesicht war braun von der Sonne. Ihre Augen, schwarz wie ihr Haar, hatten den tanzenden Glanz der Jugend, ihr schlanker Körper mit den vollen Brüsten wirkte in dem geflickten und aus rohem Leinen gefertigten Kleid wie eine Demonstration des Schönen, das keine Armut besiegen kann und das durchbricht durch Einsamkeit und Roheit der Natur.
Ralf strich sich die Haare glatt und setzte sich auf den Brunnenrand. »Wer bist du?« fragte er.
»Rosa«, sagte sie und lächelte.
»Rosa. Ein schöner Name. Ein fast zu schöner Name für ein Mädchen, das inmitten rauher Felsen aufwächst. Du wohnst in Zabari?«
Sie nickte. »Und du wohnst bei uns«, sagte sie.
»Ich?« Ralf fühlte, wie sein Herz einen Sprung machte. »Du bist die Tochter Fedors?«
»Ich bin Rosa Suhaja.« Sie trat an Ralf heran und nahm den Eimer. »Du warst gestern sehr müde … zu müde, um mich zu sehen. Ich saß in der Ecke neben dem Feuer und webte. Aber du warst so müde, Herr.«
Sie beugte sich über den Brunnenrand und ließ den Eimer ins Wasser fallen. Als sie ihn emporziehen wollte, hielt Ralf ihren Arm fest. Erstaunt fuhr sie herum.
»Laß mich das machen, Rosa«, sagte Ralf und zog den Eimer empor. »Er ist zu schwer für dich.«
»Ich mache es am Tage hundertmal!« lachte sie. Aber sie ließ Ralf den Eimer bis zum Haus tragen, wo sie auf eine hölzerne Wanne zeigte. Ralf schüttete das Wasser hinein und setzte sich dann auf die Bank vor der Tür. Er sah zu, wie Rosa ein Schaffell wusch und dann begann, mit einem Schabemesser über einem Holzklotz die noch an der Innenseite befindlichen Sehnenstückchen auszuschälen.
Sie sprachen kein Wort mehr, aber aus den Augenwinkeln sahen sie sich an. Rosas Kopf war tief über das Fell gebeugt, ihre langen schwarzen Haare fielen über ihr halbes Gesicht … unter diesem Vorhang hervor betrachtete sie Ralf und schabte oft an Stellen des Felles, an denen kein Stück Sehne zu sehen war.
Ralf blickte an sich herunter. Seine Hose war kraus und zerlegen, sein Hemd zerknittert, sein Rock faltig. Die Schuhe hatten eine dicke Staubschicht, unter den Fingernägeln waren breite schwarze Ränder.
»Ich sehe aus wie ein Vagabund, mein Mädchen«, sagte er auf deutsch. »Wie alt bist du?« fragte er auf serbisch.
»Neunzehn Jahre, Herr.«
»Neunzehn. Aber warum nennst du mich immer
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