Das Lied der weißen Wölfin: Kanada-Roman (German Edition)
nicht, ich muss … Dinge in Ordnung bringen. Viele Dinge.«
Die Heilerin nickte leicht. Marie spürte, dass sie sich fragte, welche Dinge das wohl sein konnten.
»Warum begleitet dein Mann dich nicht? Carter ist Händler, wieso reitet er mit dir?«
»Das ist eine lange Geschichte«, murmelte Marie seufzend.
»Erzähl mir. Die Männer beraten jetzt, was zu tun, wir haben Zeit.«
Sie gingen hinunter zum See, der bei Tageslicht völlig verändert wirkte. Noch immer ging große Ruhe von ihm aus, aber das Mystische, das Marie an jenem Abend so fasziniert hatte, war verschwunden. Während in den Weiden ein Vogel einen traurigen Ruf hören ließ, blieben sie vor dem Schilfrohr stehen, das sich im Wind wiegte.
»Jetzt kannst du mir erzählen, was deine Geschichte ist.«
Als Marie davon berichtete, dass ihr Verlobter zu den Männern gehörte, die ihrem Stamm nicht wohlgesinnt waren, verfinsterte sich Onawahs Blick.
»Dein Vater hat nicht gut ausgesucht für dich. Schlechter Ehemann, wird dich nicht gut behandeln, wenn er so redet.«
»Mein Vater hat ihn nicht für mich ausgesucht, er ist mir zugeteilt worden. Ehrlich gesagt, weiß ich aber nicht, ob ich ihn heiraten soll. Ich …«
»Du hast dein Herz an anderen Mann verloren.« Ein wissendes Lächeln huschte über das Gesicht der Heilerin. »Carter, der dich begleitet.«
Errötend richtete Marie den Blick auf das Wasser und entdeckte dabei ein paar Cree-Kinder, die sich durch das Schilfrohr schlichen und schließlich ins Wasser eintauchten. »Ja, aber ich habe eine Verpflichtung gegenüber dem anderen. Er hat viel Geld bezahlt, damit ich in dieses Land kommen kann.«
Onawah schnaubte verächtlich. »Geld! Weiße denken immer nur an Geld. Du bist anders als sie. Geld ist keine Fessel, die einen Menschen anbinden kann wie ein Pferd. Verpflichtungen hat der Mensch nur gegenüber den Göttern. Sag, ist der Wolf wieder zu dir gekommen?«
Der Themenwechsel überraschte Marie. »Ja, das ist er.« Um ihrer Nervosität zu begegnen, riss Marie einen langen Grashalm ab.
»Nur im Traum oder wirklich?«
»Wirklich. Er hat Philipp und mich vor einem Bären gerettet.«
Onawah zog überrascht die Augenbrauen hoch. »Carter hat ihn gesehen?«
»Ja, das hat er. Und er meinte, dass es eine Wölfin sei. Mutig hat sie sich diesem Bären entgegengeworfen. Philipp meinte, wahrscheinlich hat sie Junge, die sie beschützen will.«
Die Heilerin verfiel in nachdenkliches Schweigen. Ihr Blick blieb auf den See gerichtet, als wollte sie von dort eine Erklärung erbitten.
Marie rang mit sich. Sollte sie ihr noch erzählen, dass der Wolf ihr erst wieder erschienen ist, als sie aus der Stadt fortgeritten war? Was konnte das bedeuten?
»Ich glaube, du solltest auf dein Herz hören und auf das, was der Wolf dir sagt«, begann Onawah nach langem Schweigen. »Dass er gekommen ist und sich Carter gezeigt hat, ist ein Zeichen der Götter.«
»Wie meinst du das?«
»Das Totem gehört dir allein. Lässt sich niemals sehen von anderen als von dir. Wenn der Wolf erscheint, wenn Carter dabei ist, ist er der Mann, den die Götter für dich ausgesucht haben.«
»Und warum erscheint mir der Wolf erst bei Gefahr? In der Stadt habe ich ihn nicht gesehen.«
»Warst du glücklich in der Stadt?«
»Ja, schon. Ich habe eine Anstellung an der Schule gefunden und durfte unterrichten. Aber auch in der Stadt war ich Gefahr ausgesetzt. Philipp hat mich vor jemandem gerettet, der mich verprügeln wollte, und der Bürgermeister hat mich bedroht, als ich meinen Kindern in der Schule beibringen wollte, dass ihr gute Menschen seid …«
Onawah legte ihr die Hand auf den Arm. »Wenn dein Leben wirklich in Gefahr ist, erscheint der Wolf. Wenn er nicht erscheint, bist du nicht in Gefahr.«
Daran zweifelte Marie. Wenn Carter nicht dazwischengegangen wäre, als der Schläger sie bedrohte, hätte er ihr sicher schwere Verletzungen zugefügt.
»Frag dein Herz, welchen Mann es will. Schau nicht auf Geld. Du wirst unglücklich, wenn du Vernunft fragst. So willst du nicht leben, oder?«
Seufzend schüttelte Marie den Kopf. Wenn es denn so einfach wäre, auf ihr Herz zu hören!
Bei ihrer Rückkehr ins Lager war die Versammlung beendet. Ein paar Krieger unterhielten sich noch neben dem Zelt des Häuptlings, doch der Eingang stand weit offen.
»Sie haben eine Entscheidung getroffen«, bemerkte Marie. Onawah nickte.
»Bedeutet das Krieg?«
»Ich weiß es nicht. Aber ich glaube nicht. Noch ist die Eisenbahn nicht
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