Das Lied der weißen Wölfin: Kanada-Roman (German Edition)
Küche, ohne mich noch eines Blickes zu würdigen.
Luise wandte sich mir lächelnd zu, dann streckte sie die Hände nach mir aus. »Hat dich ein Engel mit einer Feder gekitzelt?«
Vielleicht war es wirklich so, dass mich ein Engel berührt hatte, denn auf einmal fiel mir auf, dass Luise, die mir immer irgendwie alt vorgekommen war, eigentlich noch recht jung und vor allem sehr hübsch war. Hübscher jedenfalls als unsere kranke Mutter, deren Züge vom Leid verhärmt waren und deren Augen von blauroten Schatten verunziert wurden.
Unter Luises Haube kringelten sich braune Locken, ihre Augen hatten die Farbe des Bernsteins, den Mutter als Kette um den Hals trug. Ihre gleichmäßigen Züge ähnelten denen eines Marmorengels, den ich einmal im Dom der nächstgrößeren Stadt gesehen hatte.
Als sie mich aufhob und ich mich gegen ihre Schulter schmiegte, wünschte ich mir innig, dass sie meine Mutter sei. Vergessen war die Bemerkung meines Vaters und sein seltsames Benehmen.
6. Kapitel
Dem recht milden Klima der vergangenen Tage folgte eine Zeit der Hitze, die die Reisenden auf dem Treck ziemlich mitnahm. Selbst Marie, die immer sehr darauf achtete, den Anstand zu wahren, blieb nichts anderes übrig, als sich des schweren Kleides zu entledigen. Da sie kein Sommerkleid besaß, hockte sie wie die meisten in Unterröcken, Hemden und Leibchen auf dem Wagen, von der Sonnenglut zur Untätigkeit verdammt.
Obwohl das Bedürfnis nach Pausen wuchs, wurden immer seltener welche eingelegt, denn die Wasserstellen wurden weniger, je weiter die Reise ging. Johnston begründete das Tempo damit, dass sie möglichst bald wieder in ein Gebiet mit Schatten und ausreichend Wasser kommen wollten.
Den Frauen und auch den Männern blieb nichts anderes übrig, als sich Luft zuzufächeln und in ihren Gebeten um Regen zu bitten.
Hin und wieder tauchte Angus Johnston bei Marie auf, vorgeblich deswegen, weil er sie bitten wollte, den Frauen in den anderen Wagen zu übersetzen, was er ihnen mitzuteilen hatte.
Als schließlich wieder Wald am Horizont auftauchte, waren alle erleichtert. Nun waren sie nicht mehr sehr weit von ihren Zielorten entfernt. Selkirk würde eine der ersten Städte sein, in denen einige Frauen den Treck verließen.
»Jetzt wird es bald ernst für dich«, bemerkte Ella, als sie endlich wieder eine der ersehnten Rastpausen machten. »Nicht mehr lange und du wirst heiraten.«
Marie fühlte sich auf einmal verwirrt. Natürlich hatte sie nicht die Absicht, den geschlossenen Vertrag zu brechen, doch ihre Gefühle für Johnston konnte sie auch nicht mehr leugnen. Beinahe jede Nacht, in der sie nicht mit ihrem Tagebuch in die Vergangenheit zurückkehrte, schlichen sich seltsame Gedanken an und erzeugten Träume, aus denen sie schweißgebadet erwachte. Nicht etwa, weil sie so schlimm waren, sondern weil sie ihre Lust weckten. Und damit auch eine Erinnerung, die sie längst verdrängt hatte.
Kurz bevor sie den Wald erreichten, zogen sich am Himmel dunkle Wolken zusammen. Auch in ihrer Heimat kamen Gewitter recht rasch, dieses jedoch übertraf an Schnelligkeit jedes Unwetter, das sie zuvor erlebt hatte. Blitze, wie sie sie noch nie gesehen hatte, durchzuckten die niedrig hängende Wolkendecke. Der Donner dröhnte weit über die Ebene und hallte von den Bergen wider, die sich hinter den Wäldern erhoben.
In einer Nacht glaubte Marie erneut den weißen Wolf zu sehen. Aufgeschreckt von einem Blitz fuhr sie von ihrem Lager in die Höhe und bemerkte eine kleine Gestalt, die im ersten Moment dem Wolf ähnelte. Sie wirkte heller als die Umgebung und war auch klein genug, um ein Wolf zu sein. Doch es war ein Mann, der unweit ihres Wagens zusammengekauert hockte. Um seine Schultern hatte er eine Plane gelegt, die im Licht der Blitze beinahe weiß leuchtete.
War das Johnston? Marie wollte schon zu ihm laufen und ihn fragen, was er dort machte. Dann fiel ihr wieder ein, dass der Regen sie in Sekundenschnelle durchnässen und ihr die Kleider an den Leib kleben würde, sodass nichts an ihrem Körper mehr ein Geheimnis blieb.
Sie blieb also unter der schützenden Plane, wandte den Blick von dem Mann allerdings nicht ab. Ungläubige Faszination erfasste sie. Wie konnte ein Mann in einem Gebiet, in dem sie wohl keine Feinde zu fürchten hatten, mitten im Gewitter draußen sitzen und Ungemach auf sich nehmen, nur um über das Lager zu wachen?
Würde das einer der Männer tun, mit denen wir verlobt sind?, dachte sie. Sie bezweifelte es. Umso
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