Das Lied der weißen Wölfin: Kanada-Roman (German Edition)
können!
Als sie Ella wachrütteln wollte, stellte sie fest, dass diese sie bereits mit weit geöffneten Augen beobachtete.
»Du hast heute Nacht im Traum geredet«, sagte sie leise. »Von einem Wolf.«
Hatte sie von dem Wolf geträumt? Marie erinnerte sich nicht mehr.
»Ich rede im Schlaf?«, fragte sie verwundert und wich gleichzeitig dem Blick ihrer Freundin aus.
»Ja, ziemlich oft sogar.«
Schlagartig schoss ihr das Blut in die Wangen. Was, wenn sie Dinge preisgab, die sie lediglich ihrem Tagebuch anvertrauen wollte?
Während Ella sich lächelnd aufrichtete, glaubte Marie schon, dass sie sie wie so oft auf den Arm nehmen wollte.
»Du hast neulich von einem Peter gesprochen«, sagte ihre Freundin plötzlich. »War das dein Freund zu Hause?«
Marie blickte sie erschrocken an. Die Geschichte ihres Bruders hatte sie Ella nicht erzählt. Jedenfalls nicht im wachen Zustand. Und wenn möglich, wollte sie dies auch nicht im Schlaf tun.
»Er war mein Bruder«, antwortete sie kurz angebunden, denn Ella würde ihr gewiss keine Ruhe lassen, wenn sie so tat, als hätte sie nichts gehört.
»War?«, hakte Ella nach.
»Ja, war. Er ist vor zwei Jahren gestorben.«
»Und woran? An Folgen des Krieges kann er doch eigentlich nicht gelitten haben, oder?«
»Nein, im Krieg waren wir ja selbst noch Kinder.« Marie drängte die unangenehme Erinnerung an den Vorfall zwischen ihr und dem Vater beiseite. Es hatte etwas mit dem Krieg zu tun gehabt – und mit ihrer Mutter. Nur äußerst ungern dachte sie daran zurück.
»Mein Vater hat immer behauptet, dass sich die Menschheit eines Tages selbst auslöschen wird, weil sie immer Gründe findet, einen Krieg vom Zaun zu brechen«, bemerkte Ella mit einem bitteren Lächeln.
»Dein Vater war ein kluger Mann.«
Ella senkte den Blick. »Wenn er klar war, schon. Doch der Alkohol hat ihn schließlich nicht mehr aus seinen Fängen gelassen. Letztes Jahr ist er gestorben und hat uns einen Haufen Schulden hinterlassen. Da ich meiner Familie nicht länger auf der Tasche liegen wollte, habe ich mich entschlossen, hierherzugehen, in den sicheren Hafen der Ehe.«
Als Ella vom Wagen stieg, um ihre Morgentoilette zu erledigen, blickte Marie ihr nachdenklich hinterher. Wir alle haben unsere Last zu tragen, dachte sie. Auch wenn es jedem von uns scheint, nur er selbst hätte Unglück.
Zwischen morgendlicher Wäsche und Frühstück hatte Marie nach langer Zeit endlich wieder die Gelegenheit, die Begleitreiter und den Treckchief zu belauschen, die sich hinter dem mittleren Wagen zu einer Besprechung zusammengefunden hatten. Die Stimmung war angespannt.
»Das wird jetzt ein ziemlicher Höllenritt«, sagte einer der Männer, der damit beschäftigt war, das Wasser von der Plane seines Wagens herunterzufegen, ohne die Frauen gänzlich zu durchnässen. »Der Weg ist sicher knietief aufgeweicht.«
»Es gibt noch eine andere Möglichkeit«, warf Johnstons Nebenmann ein, doch der Treckchief schüttelte den Kopf.
»Kommt nicht infrage! Ihr wisst, dass die Strecke nicht sicher ist.«
»Aber wir haben doch schon lange nichts mehr von ihnen gehört.«
Gefahr? Wovon redete er da? Marie wandte den Kopf ein wenig zur rechten Seite, um besser lauschen zu können. Seit einem Vorfall in ihrer Jugend hörte sie auf dem rechten Ohr besser als auf dem linken, ein Umstand, der sie anfangs ziemlich gestört hatte, doch mittlerweile hatte sie sich daran gewöhnt.
»Genug davon!«, rief Johnston ungehalten. »Wir werden uns nicht in unnötige Gefahr begeben. Sollte der Weg unpassierbar sein, werde ich noch einmal darüber nachdenken, aber bis dahin bleiben wir auf der besprochenen Route.«
Damit gingen die Männer auseinander. Marie biss sich auf die Unterlippe. Was brachte Johnston derart auf? Warum sollte die Abkürzung nicht sicher sein?
Sie wollte schon zu ihm gehen und nachfragen, doch da fiel ihr ein Grund ein: Banditen. In Boston hatte es von Geschichten über sie nur so gewimmelt. Es war sicher nur vernünftig, dass sich Johnston für den beschwerlicheren Weg entschied, wenn dadurch ihre Sicherheit gewährleistet war.
Doch schon gegen Mittag zeigte sich, dass der Wagenlenker recht gehabt hatte. Nachdem sich die Pferde eine Weile durch den Schlamm gequält hatten, gab Johnston das Zeichen zum Anhalten. Die beiden Männer, die er losschickte, um die Strecke auszukundschaften, kehrten mit schlechten Neuigkeiten zurück.
»Vor uns liegt ein riesiger Schlammtümpel. Bis der wieder ausgetrocknet ist,
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