Das Lied der weißen Wölfin: Kanada-Roman (German Edition)
mehr bewunderte sie die Männer, die diese Strapazen und Gefahren auf sich nahmen, um anderen Männern das Familienglück zu bringen. Oder zumindest die Möglichkeit, das Glück zu finden.
Gedankenvoll lehnte sich Marie wieder zurück.
Als sie spürte, wie der Schlaf allmählich Besitz von ihr ergriff, glaubte sie, in der Ferne zwischen den Donnerschlägen das Heulen eines Wolfes zu hören, doch ihre Lider waren bereits zu schwer, um noch einmal nachzusehen.
In einer Nacht wurde ich von seltsamen Geräuschen aufgeschreckt. Peter hatte mir zuvor das Märchen vom Rotkäppchen erzählt und die Passage, in der der Wolf das Mädchen frisst, ziemlich ausgeschmückt. Fest davon überzeugt, dass ein Wolf um unser Haus strich, zog ich die Decke bis unters Kinn und spielte mit dem Gedanken, Peter zu wecken, doch ich wollte nicht, dass er mich für feige hielt und neckte, wenn sich herausstellte, dass doch kein Wolf da war.
Die Geräusche wurden lauter, und schließlich meinte ich, eine helle Stimme dazwischen zu hören. Luise! Was war los? War sie krank? Oder hatte sich der Wolf in ihr Zimmer geschlichen?
Als ich die Laute nicht mehr aushielt, erhob ich mich und kletterte so leise wie möglich aus dem Bett. Den erneut aufkeimenden Gedanken, meinen Bruder zu wecken, drängte ich zurück. Das konnte ich immer noch tun, wenn ich mir sicher war, ob ein Untier ins Haus eingedrungen war.
Auf Zehenspitzen huschte ich zu Luises Kammer, voller Angst, dass ihr jemand etwas antun würde. Die animalischen Laute begleiteten mich den ganzen Weg entlang und fachten meine Sorge um unsere Magd noch weiter an. Der Gedanke, den Vater zu rufen, kam mir nicht, denn noch nie hatte ich mich des Nachts in die Schlafkammer meiner Eltern gewagt. Nur tagsüber, wenn meine Mutter allein war, ging ich manchmal zu ihr, um ihr das Haar zu kämmen und mit ihr zu reden.
Vor der Kammertür waren die Geräusche am lautesten. Erschaudernd und mit ins Nachthemd verkrampften Händen überlegte ich, ob ich nach der Klinke greifen sollte. Was, wenn der Wolf auch mich anfiele?
Dann nahm ich allen Mut zusammen. Als ich die Tür aufriss, erblickte ich im Schein der Petroleumlaterne zwei Leiber auf der Bettstatt. Jener, der auf Luises nacktem weißen Körper lag, war mit einem dunklen Flaum bedeckt und hatte schwarzes Haar, wie ein Mensch gewordener Wolf, und die Laute, die er ausstieß, während er sich bewegte, ähnelten dem Knurren eines Hundes.
Als Luise mich bemerkte, weiteten sich ihre Augen erschrocken. Sie griff nach den Armen des Mannwolfes, doch der ließ nicht von ihr ab und vergrub weiterhin seinen Kopf an ihrer Schulter. Ihr Mund öffnete sich zu einem Schrei, doch sie brachte keinen Ton hervor, als hätte ihr der Wolf bereits die Kehle zerbissen.
Ich prallte erschrocken zurück. Insgeheim hatte ich gehofft, dass Märchen nicht wahr sein würden, doch hier sah ich das Gegenteil. Als der Wolf mich bemerkte und mir den Kopf zudrehte, wirbelte ich herum und rannte so schnell ich konnte den Gang entlang, zu meinem Zimmer zurück.
Diesmal achtete ich nicht darauf, ob ich Peter wecken würde oder nicht. Ich trampelte über die Bodendielen, schlug die Tür hinter mir zu und warf mich zitternd auf mein Bett.
»Was ist passiert?«, fragte Peter, als er sich schlaftrunken aufsetzte.
Ich konnte nicht antworten. Das Bild des Mannes, der sich heftig zwischen Luises Schenkeln bewegt hatte, hatte sich in meine Augen eingebrannt. Da half es auch nichts, dass ich die Augen zukniff, das Bild wurde umso deutlicher.
Besorgt stieg Peter aus dem Bett und kam zu mir. Sanft strich er mir das Haar aus dem Gesicht, dann setzte er sich neben mich. Seine Umarmung beruhigte mich ein wenig, doch das, was ich gesehen hatte, konnte sie ebenfalls nicht vertreiben.
»Luise!«, brachte ich schließlich hervor.
»Was ist mit Luise?« Peter strich mir übers Haar. »Nun sag schon, Mariechen, was ist mit Luise?«
»Sie ist verschlungen worden«, presste ich hervor, nicht ahnend, wie treffend dieser Vergleich in Wirklichkeit war.
»Verschlungen?« Ich spürte deutlich Peters Beunruhigung, aber es war zu spät, um zu schweigen. »Von wem wurde sie verschlungen?«
»Von einem Wolf.«
Am nächsten Tag wurden die Frauen von hellem Sonnenlicht geweckt, das in den Regentropfen glitzerte, die von den Planen rannen. Als Marie den Kopf aus dem Wagen steckte, wurde sie vom Funkeln der Tropfen auf dem Gras beinahe geblendet. Ein Meer aus Diamanten hätte nicht prächtiger sein
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