Das Lied des Achill
fest. Er hatte längst die Straße verlassen und war jetzt ohne Pferd auf den steilen Hängen zu Fuß unterwegs. Ein guter Fährtenleser würde an Abdrücken oder geknickten Pflanzen erkennen können, welchen Weg er eingeschlagen hatte. Doch darauf verstand ich mich nicht. Ich entdeckte nirgends Spuren, denen ich hätte folgen können. Meine Ohren summten vom Zirpen der Zikaden, schrillen Vogelrufen und meinem eigenen Keuchen. Plötzlich überkamen mich Hunger und Verzweiflung.
Und dann gab es da noch etwas, einen Laut, kaum vernehmlich. Aber ich nahm ihn wahr, und er ließ mir trotz der Hitze das Blut in den Adern gefrieren. Ich kannte dieses Geräusch. Es war eines von heimlicher Bewegung, die lautlos zu sein versuchte, ein gelegentliches Rascheln, ein falsch gesetzter Tritt.
Ich lauschte bang. Wo kam es her? Ich schaute mich nach allen Seiten um und rührte mich nicht vom Fleck. Im Laufschritt unterwegs hatte ich nicht an Gefahr gedacht, doch jetzt malte ich sie mir aus: Soldaten, von Peleus oder womöglich sogar von Thetis geschickt, weiße, kalte Hände, die sich mir um den Hals legten. Oder Wegelagerer. Mir war bekannt, dass sie an den Straßen lauerten, und ich erinnerte mich an Geschichten über junge Männer, die geraubt und gequält worden waren. Ich hielt die Luft an und stand still, um mich nicht zu verraten. Mein Blick fiel auf ein Büschel blühender Schafgarbe, in dem ich mich würde verstecken können. Jetzt. Los .
Ich bemerkte, wie sich etwas zu meiner Linken im Wald bewegte, und fuhr mit dem Kopf herum. Zu spät. Etwas – jemand – schlug von hinten zu und stieß mich nach vorn. Ich stürzte der Länge nach zu Boden mit dem Angreifer im Nacken und erwartete mit geschlossenen Augen den Stich einer Klinge.
Doch der blieb aus. Stille ringsum. Ich spürte Knie im Rücken, so platziert, dass sie nicht wehtaten.
»Patroklos.« Pa-tro-klos .
Ich rührte mich nicht.
Der Druck der Knie ließ nach. Hände wälzten mich behutsam herum. Achill blickte auf mich herab.
»Ich hatte gehofft, dass du mir folgst«, sagte er. Meine Nerven flatterten vor Erleichterung und die Anspannung löste sich. Ich sog seinen Anblick in mich auf, sein helles Haar, seine geschwungenen Lippen. Meine Freude war so groß, dass ich nicht zu atmen wagte. Was hätte ich sagen können? Tut mir leid, vielleicht. Oder irgendetwas anderes. Ich öffnete den Mund.
»Ist er verletzt?«
Eine tiefe Stimme meldete sich aus dem Hintergrund. Achill warf einen Blick über die Schulter. Am Boden liegend, sah ich nur die Beine eines Pferdes, dunkelbraun und die Fesseln voller Staub.
Wieder erklang die Stimme, maßvoll und bedächtig. »Kann es sein, Achill Pelides, dass er der Grund ist, warum du noch nicht zu mir auf den Berg gekommen bist?«
Ich versuchte, mir einen Reim darauf zu machen. Achill war nicht zu Cheiron gegangen und hatte stattdessen hier auf mich gewartet.
»Zum Gruße, Meister Cheiron. Ich bitte um Entschuldigung. Ja, deshalb bin ich säumig.« Achill sprach mit seiner Prinzenstimme.
»Verstehe.«
Ich wünschte, Achill wäre aufgestanden, kam ich mir doch töricht vor, wie ich so unter ihm am Boden lag. Und ich hatte Angst. Die Stimme des Mannes ließ zwar keine Verärgerung erkennen, aber auch keine Freundlichkeit. Sie war klar, ernst und leidenschaftslos.
»Steh auf«, sagte er.
Achill gehorchte.
Ich hätte laut aufgeschrien, wäre mir nicht vor Schreck die Luft weggeblieben. Stattdessen gab ich nur ein Winseln von mir und kroch hastig zurück.
Die kräftigen Vorderläufe des Pferds trugen den nicht weniger kräftigen Rumpf eines Mannes. Ich starrte auf die sonderbare Nahtstelle zwischen Tier und Mensch, diesen Übergang zwischen glatter Haut und glänzendem braunem Fell.
Achill verbeugte sich. »Meister Zentaur«, sagte er. »Entschuldige meine Verspätung. Ich musste auf meinen Gefährten warten.« Er kniete nieder in den Staub. »Bitte verzeih mir. Schon seit langem wünsche ich mir, dein Schüler zu sein.«
Die Miene des Mannes – des Zentauren – war so ernst wie seine Stimme. Er war schon betagt, wie ich sah, und hatte einen sorgfältig gestutzten schwarzen Bart.
Er betrachtete Achill einen Moment lang. »Du musst vor mir nicht niederknien, Pelides. Obwohl ich deine Höflichkeit zu schätzen weiß. Und wer ist dieser Gefährte, der dich aufgehalten hat?«
Achill schaute mich an und reichte mir seine Hand. Ich ergriff sie und ließ mir aufhelfen.
»Das ist Patroklos.«
Es blieb eine Weile still.
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