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Das Lied des Achill

Das Lied des Achill

Titel: Das Lied des Achill Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Madeline Miller
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tausend Mal angesehen, aber jetzt liegt etwas anderes in seinem Blick, eine Intensität, von der ich bislang nichts wusste. Mein Mund ist trocken und ich kann mich schlucken hören.
    Er beobachtet mich. Es scheint, als wartete er auf etwas.
    Ich rücke auf ihn zu, ein winziges Stück nur, aber es ist wie der Sprung von einer Klippe. Ich weiß selbst nicht so recht, was ich tue, und beuge mich vor. Unsere Lippen treffen aufeinander, wie dicke Hummeln, weich und rund und schwer von Pollen. Ich schmecke seinen Mund, den süßen Honig, den es zum Nachtisch gab. Mein Inneres gerät in Aufruhr, und in meinem Körper regt sich ein warmes Wonnegefühl. Mehr .
    Es schockiert mich, wie schnell und heftig mein Verlangen aufkeimt. Ich schrecke zurück und sehe seinen Mund noch geöffnet, halb zum Kuss geformt. Seine Augen sind vor Verwunderung weit geöffnet.
    Entsetzen packt mich. Was habe ich getan? Mir bleibt keine Zeit, mich zu entschuldigen, denn er weicht zurück und steht auf. Seine Miene ist verschlossen, undurchdringlich und entfernt. Mir bleiben die Worte, die ich zur Erklärung vorbringen will, im Halse stecken. Er wendet sich ab und rennt über den Strand davon, der schnellste Junge der Welt.
    Mir wird kalt ohne ihn an meiner Seite. Meine Haut fühlt sich an wie ein gespanntes Trommelfell. Mir brennt das Gesicht, und ich weiß, dass es rot ist.
    Ich flehe die Götter an: Lasst ihn mich nicht hassen .
    Wie töricht, dass ich mich ausgerechnet an sie wende.
    Als ich in den Pfad einbog, der zum Garten führte, stand sie plötzlich vor mir, in aller Klarheit. Ein blaues Kleid, durchnässt, wie es schien, klebte auf ihrer Haut. Die schwarzen Augen waren auf mich gerichtet, und eine gespenstisch weiße Hand griff nach mir.
    »Ich hab’s gesehen«, zischte sie, und es klang, als brächen Wellen am Fels.
    Ich konnte nichts sagen. Sie hielt mich an der Kehle gepackt.
    »Er wird gehen.« Ihre Augen waren jetzt schwarz wie nasse Steine. »Ich hätte ihn schon längst wegschicken sollen. Untersteh dich, ihm zu folgen.«
    Ich bekam keine Luft mehr, hütete mich aber, Widerstand zu leisten. Es schien, als wollte sie mir noch etwas sagen, doch sie schwieg und ließ von mir ab. Wie eine Stoffpuppe sackte ich kraftlos zu Boden.
    Der Wunsch einer Mutter. In unseren Ländern gab man darauf nicht viel, doch sie war eine Göttin.
    Es war schon dunkel, als ich zurückkehrte. Achill saß auf dem Bett und starrte auf seine Füße. Er hob den Kopf, fast hoffnungsvoll, als ich zur Tür hereinkam. Ich sagte nichts. Der Anblick ihrer schwarzen Augen und seiner über den Sand fliegenden Fersen ließ mich nicht mehr los. Verzeih, es war ein Fehler . Das hätte ich vielleicht gesagt, wenn sie mir nicht durch den Kopf gegangen wäre.
    Ich betrat die Kammer und setzte mich auf mein Bett. Er machte eine Bewegung und schaute mich an. Äußerlich sah er seiner Mutter überhaupt nicht ähnlich, jedenfalls nicht so, wie Kinder nach einem Elternteil geraten, was sich vielleicht an der Linie des Kinns oder an den Augen zeigte. Wohl aber war es die Art, wie er sich bewegte, und seine schimmernde Haut, die etwas Göttliches hatten und mich an sie erinnerten. Was hatte ich mir eigentlich gedacht?
    Obwohl mehrere Schritte von ihm entfernt, konnte ich den Seegeruch an ihm wahrnehmen.
    »Ich muss morgen aufbrechen«, sagte er. Es klang fast wie ein Vorwurf.
    »Oh«, sagte ich. Mehr bekam ich nicht heraus.
    »Ich werde zu Cheiron gehen, um mich von ihm unterweisen zu lassen.« Und nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Er hat schon Herakles unterrichtet. Und Perseus.«
    Noch nicht , hatte er zu mir gesagt. Aber seine Mutter wollte es anders.
    Er stand auf und legte sein Kleid ab. Es war heiß, Hochsommer, und wir waren gewohnt, nackt zu schlafen. Das Licht beschien seinen glatten, muskulösen Bauch mit dem Flaum hellbrauner Haare, die nach unten hin dunkler wurden. Ich wendete meinen Blick ab.
    Am nächsten Morgen stand er in der Dämmerung auf und zog sich an. Ich war wach, hatte die ganze Nacht kein Auge zugetan, tat aber so, als ob ich schliefe, und lugte heimlich durch die Wimpern. Ab und an warf er mir einen Blick zu. Im spärlichen Licht schimmerte seine Haut wie Marmor. Er warf seinen Reisesack über die Schulter und blieb noch einmal in der Tür stehen. Ich erinnere mich an diesen Moment, an seine Silhouette in dem steinernen Türbogen, die lose herabfallenden Haare, noch zerzaust vom Schlaf. Ich schloss meine Augen. Als ich sie wieder öffnete, war

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