Das Lied des Achill
Totenstille, bevor sie erschien. Dann hielt ich mich jedes Mal in Cheirons Nähe auf und blieb in der Höhle. Ihre Besuche waren für mich nicht weiter von Belang, und ich redete mir ein, dass ich ihr gönnte, ihren Sohn zu sehen. Trotzdem war ich immer froh, wenn sie wieder ging.
Es wurde Winter, und der Fluss gefror. Achill und ich wagten uns aufs Eis hinaus, in das wir später Löcher schlugen, um zu fischen. Es war unser einziges Fleisch, denn im Wald gab es nur noch Mäuse und manchmal den einen oder anderen Marder.
Es begann zu schneien, wie Cheiron vorausgesagt hatte. Wir lagen auf dem Boden, ließen die Flocken auf uns herabrieseln und behauchten sie mit unserem Atem, bis sie geschmolzen waren. Wir hatten weder Stiefel noch Mäntel, nur die Felle, die uns Cheiron gegeben hatte, und waren froh, uns in die warme Höhle zurückziehen zu können. Sogar Cheiron trug jetzt ein Hemd, genäht aus dem Fell eines Bären, wie er sagte.
Nach dem ersten Schneefall zählten wir die Tage und markierten sie mit Strichen auf einem Stein. »Wenn ihr die Fünfzig erreicht«, sagte Cheiron, »wird das Eis auf dem Fluss brechen.« Am Morgen des fünfzigsten Tages hörten wir ein seltsames Geräusch. Es war, als stürzten Bäume. Die Eisdecke auf dem Fluss zeigte nahe dem Ufer erste Risse. »Bald ist Frühling«, sagte Cheiron.
Nicht lange danach fing das Gras wieder zu wachsen an, und die Eichhörnchen kamen aus ihren Kobeln hervor, abgemagert und hungrig. Wir taten es ihnen gleich und aßen unser Frühstück in der frischen Frühlingsluft. Eines Morgens fragte Achill den Zentaur, ob er uns zu kämpfen beibringen würde.
Ich wunderte mich, warum er ausgerechnet jetzt darauf zu sprechen kam. Weil er sich nach dem langen Winter endlich wieder austoben wollte? Oder hatte es mit seiner Mutter zu tun, die kürzlich wieder zu Besuch gewesen war?
Wirst du uns zu kämpfen beibringen?
Cheiron ließ sich mit der Antwort Zeit. Ich glaubte fast, mir die Frage nur eingebildet zu haben. »Wenn ihr wollt«, sagte er schließlich.
Er holte für uns beide je einen Speer und ein Übungsschwert aus einer Ecke der Höhle hervor, führte uns zu einer Lichtung weiter oben auf dem Berg und forderte uns auf, ihm zu zeigen, was wir bislang gelernt hatten. Ich führte ein paar halbherzige Paraden und Hiebe vor, während Achill neben mir sein ganzes Können unter Beweis stellte. Mit einem bronzeverstärkten Stab fuhr Cheiron gelegentlich dazwischen, um zu sehen, wie wir reagierten.
So ging es eine geraume Zeit lang, und mir wurden die Arme schwer. Schließlich gönnte uns Cheiron eine Pause. Wir tranken aus dem Wasserschlauch und legten uns aufs Gras. Ich war außer Atem, Achill offenbar nicht.
Cheiron stand vor uns und schwieg.
»Und, was denkst du?«, fragte Achill ungeduldig. Cheiron war, wie ich mich erinnerte, erst die vierte Person, die ihn hatte kämpfen sehen.
Die Antwort des Zentauren kam völlig unerwartet.
»Dir kann ich nichts mehr beibringen. Du beherrschst bereits alles, was Herakles beherrschte, und mehr noch. Du bist der größte Krieger deiner Generation und aller Generationen vor dir.«
Achill errötete, ob aus Verlegenheit oder weil er sich geschmeichelt fühlte, konnte ich nicht sagen.
»Man wird von deinen Fähigkeiten hören und als Kämpfer für fremde Kriege um dich werben.« Nach einer kurzen Pause fragte er: »Wie wirst du auf solche Anträge antworten?«
»Ich weiß nicht«, entgegnete Achill.
»Fürs Erste reicht diese Antwort, aber sie wird in Zukunft nicht genügen«, sagte Cheiron.
Es wurde für eine Weile still, und ich glaubte, die Luft knistern zu hören. Achill wirkte zum ersten Mal, seit wir bei Cheiron waren, angespannt und ernst.
»Und wie steht’s um mich?«, wollte ich wissen.
Cheiron sah mich aus seinen dunklen Augen an. »Du wirst als Kämpfer keinen Ruhm erlangen. Überrascht dich das?«
Seine Stimme klang nüchtern, was der Aussage irgendwie den Stachel nahm.
»Nein«, antwortete ich ehrlich.
»Trotzdem kann ein guter Soldat aus dir werden. Möchtest du einer sein?«
Ich dachte an die trüben Augen des Jungen und daran, wie schnell sein Blut im Staub versickert war. Ich dachte an Achill, den größten Kämpfer seiner Generation. Ich dachte an Thetis, die ihn mir nehmen würde, wenn sie es könnte.
»Nein«, sagte ich.
So endete unsere Lektion in Sachen Kriegskunst.
Der Frühling ging in den Sommer über. Es wurde wärmer, alles grünte, und in den Wäldern gab es wieder Wild und
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