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Das Lied des Achill

Das Lied des Achill

Titel: Das Lied des Achill Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Madeline Miller
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entfernen, wenn es von Fäulnis befallen ist. Man erkennt es am Knistern, wenn man die Wundränder zusammendrückt.«
    Dann ließ er uns unsere Knochen am eigenen Körper ertasten und fuhr mit der Hand über den Wirbelgrat auf unserem Rücken. Er zeigte mit dem Finger, wo welches Organ unter der Bauchdecke lag.
    »Eine Erkrankung jedes einzelnen Organs kann zum Tod führen. Aber am schlimmsten ist es, wenn sie sich hier einnistet.« Er tippte auf Achills Schläfenmulde. Ein Kälteschauer durchfuhr mich, als ich ihn die Stelle berühren sah, die Achills Leben schützte und so dünn und verwundbar war. Zum Glück sprach er bald von anderen Dingen.
    Am Abend lagen wir im weichen Gras vor der Höhle. Cheiron deutete auf Sternbilder und erzählte ihre Geschichten. Andromeda kauerte in Fesseln vor dem Maul eines Seeungeheuers; davor stand Perseus, im Begriff, sie zu retten. Nachdem dieser der Medusa das Haupt abgeschlagen hatte, entsprang ihrem Hals das geflügelte, unsterbliche Pferd Pegasus. Er erzählte auch von Herakles, seinen schweren Prüfungen und davon, dass er dem Wahnsinn verfiel, weder die eigene Frau noch seine Kinder erkannte und sie tötete, weil er sie für Feinde hielt.
    Achill fragte: »Warum hat er seine Frau nicht wiedererkannt?«
    »Wahnsinn macht blind«, antwortete Cheiron, und seine Stimme klang tiefer als gewöhnlich. Er hatte, wie ich mich erinnerte, den Helden gekannt und wohl auch dessen Frau.
    »Warum wurde er wahnsinnig?«
    »Die Götter wollten ihn bestrafen.«
    Ungeduldig schüttelte Achill den Kopf. »Aber für seine Frau war es doch eine noch größere Strafe. Das ist ungerecht.«
    »Es gibt kein Gesetz, das den Göttern Gerechtigkeit abverlangt«, sagte Cheiron. »Und vielleicht ist es am Ende viel schlimmer, am Leben bleiben zu müssen, wenn der andere gegangen ist.«
    »Vielleicht«, erwiderte Achill.
    Ich hörte nur zu und sagte nichts. Achills Augen leuchteten im Feuerschein; von den flackernden Schatten war sein Gesicht scharf gezeichnet. Ich würde es auch im Finsteren oder maskiert wiedererkennen, dachte ich bei mir. Selbst im Wahn.
    »Habe ich euch schon die Geschichte des Asklepios erzählt«, fragte Cheiron, »und wie er die Geheimnisse der Heilkunst aufdeckte?«
    Das hatte er, aber wir wollten sie noch einmal hören, die Geschichte, wie dieser Held und Sohn des Apoll einer Schlange das Leben gerettet hatte, worauf diese aus Dankbarkeit ihm die Ohren ausleckte, damit er hörte, was sie ihm über die Wirkung von Kräutern zuzuzischeln wusste.
    »Aber in Wirklichkeit warst du es, der ihm zu heilen beigebracht hat«, sagte Achill.
    »Ja, so ist es.«
    »Macht es dir nichts aus, dass der Schlange dieses Verdienst zugesprochen wird?«
    Cheiron lächelte und entblößte die Zähne unter seinem dunklen Bart. »Nein, Achill, das macht mir nichts aus.«
    Später spielte Achill auf der Leier. Der Leier meiner Mutter. Er hatte sie mitgenommen.
    Am Tag unserer Ankunft hatte er sie mir gezeigt, und ich hatte ihm gestanden: »Fast wäre ich nicht gekommen, weil ich ohne sie nicht gehen mochte.«
    »Dann weiß ich ja jetzt, was ich tun muss, damit du mir überallhin folgst«, hatte er lächelnd erwidert.
    Hinterm Gipfelgrat des Pelion ging die Sonne unter, und wir waren glücklich.
    Schnell verging die Zeit im Idyll am Fuß des Berges. Es wurde nachts nun kühl, und nur zögernd erwärmte sich die Luft bei Tag, wenn das fahle Sonnenlicht durch die trockenen Blätter fiel. Cheiron gab uns Felle, in die wir uns kleideten. Vor den Eingang zur Höhle wurden Tierhäute zum Schutz gegen die Kälte gehängt. Wir legten Holzvorräte an und pökelten Fleisch für den Winter. Noch hatten sich die Tiere nicht in ihre Bauten zurückgezogen, doch sie würden es bald tun, sagte Cheiron. Morgens bestaunten wir den Raureif, der die Blätter umkränzte. Aus Liedern und Geschichten wussten wir vom Schnee, hatten ihn aber noch nie gesehen.
    Eines Morgens wachte ich auf und suchte nach Cheiron, konnte ihn aber nirgends finden. Er stand meist vor uns auf, um die Ziegen zu melken oder Früchte fürs Frühstück zu sammeln. Ich verließ die Höhle, damit Achill weiterschlafen konnte, setzte mich auf die Lichtung und wartete. Vom Feuer der vergangenen Nacht war nur weiße Asche übrig geblieben. Ich stocherte darin herum und lauschte den Geräuschen des Waldes. Eine Wachtel schlug, eine Taube gurrte. Ich hörte es im Unterholz rascheln, vom Wind vielleicht oder irgendeinem Tier.
    Plötzlich begann meine Haut zu

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